Die Realität ist kein Buch

Clara Rainer

von Clara Rainer

Story

So lange dauert meine Geschichte nun schon.

Oder? Nein, eigentlich nicht. Vor eineinhalb Wochen. eigentlich hat es schon da begonnen. Verdammt lange Zeit, was?

Astronomisch gesehen sind diese zehn Tage nicht mal ein Wimpernschlag, verglichen mit dem, was die Menschheit schon alles erlebt hat. Ich selbst habe schon ganze vierzehneinhalb Jahre auf diesem Planeten verbracht; vielleicht habe ich vorher in irgendeiner Galaxie existiert, man kann nie wissen. Trotzdem kommt es mir wie eine ewig lange Zeit vor.

Ich denke, man kann es mit einer Geschichte vergleichen. Ja, eine Geschichte. Sofort klingt es viel harmloser. Ich hab nichts damit zu tun, rein gar nichts. Ich denke, so kann ich es erzählen.

Weil meine Geschichte nicht aufhört und nicht aufhört und ich manchmal einfach die Seiten zuschlagen will um aufzuhören.

In der Geschichte geht es um ein Mädchen, das sich im Moment nichts mehr wünscht, als ein halbes Jahr in Irland auf eine Schule zu gehen. Klingt wie ein Märchen? Ist es nicht.

Eigentlich klappt alles super, und das Mädchen steigert sich immer mehr in diese Idee hinein, überlegt, plant, durchforstet das Internet, spricht mit anderen Menschen, hört Online-Vorträgen zu, die Eltern unterstützen den Plan.

Fein! Kann ja nichts mehr schiefgehen?

Denkt sich das Mädchen vielleicht. Wahrscheinlich sollte ich ihr einen Namen geben. Wie wär´s mit… Charity? Der Name klingt gut.

Charity hatte eine Freundin. Lange. Schon fünf Jahre, aber verglichen mit der anderen besten Freundschaft ist das nicht viel. Vielleicht ist es eine zu kurze Zeit, um sich wirklich zu kennen. Charity und ihre Freundin Freya stritten sich nie, weil sie sich einfach ergänzten.

Doch seit einigen Jahren herrscht ein Virus auf dieser Erde, und eigentlich hat es Charity nie betroffen. Nicht wirklich, denn die meisten, die sich infizierten, wurden wieder gesund. Auch das Mädchen.

Freya hatte das Glück, nie an diesem Virus zu erkranken, und vielleicht liegt das auch an der Impfung, die die Regierung mit dem Gesundheitsministerium eingeführt hat. Freya hat sich impfen lassen. Charity nicht. Bislang war das nie wirklich ein Problem, denn sie hatte erkannt, dass sich manche Dinge einfach verstecken lassen, wenn man sich die Ohren zuhält oder Gesprächsthemen meidet.

Doch nun braucht sie diesen scheiß-Impfpass, um nach Irland zu können. Weil die es dort so wollen, und vielleicht alle der Meinung sind, das ist doch richtig so.

Vielleicht liegt auch Charity falsch, wer weiĂź.

Und nun bin ich diese verdammte Charity, nun ist das alles real und ich kann das Buch nicht zuschlagen oder mir die Ohren zuhalten, weil ich es nicht mehr hören will.

Sie redet nicht mehr mit ihr, vielleicht hat sie erkannt, dass Charity zu den Außenseitern gehört. Obwohl sie sich jahrelang akzeptiert haben.

Was jetzt?

Jetzt sitze ich hier und frage mich verdammt noch mal, was ich falsch gemacht habe. Und will wissen, ob es meine Schuld war.

An eine Freundin, die das vielleicht versteht.

© Clara Rainer 2022-11-24

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