Die Regenmacherin

Marie Rosum

von Marie Rosum

Story

Vor Rhian lagen Meilen aus zerfurchtem, steinhartem Erdboden. Am Horizont, im Schatten der riesigen roten Sonne, waren die Skelette alter Hochhäuser zu erkennen. Der Mercedes-Laster arbeitete sich über den plattgewalzten und zerbombten Boden, durch Trümmerhaufen und vorbei an den Resten einer Zivilisation, die es schon lange nicht mehr gab. Rhian hielt das Steuer entspannt aber niemals leichtfertig in den Händen – dafür war ihre Last zu kostbar. Außer dem Schutz und Transport dieses Gutes hatte Rhians Leben auf dieser Welt keinen Wert. Niemandes Leben.
Der Wagen war weit und breit der einzige. Zumindest der einzige, der noch fuhr. An dem, was mal die Küste gewesen war, sah man dutzende stählerne Wale verwesen. U-Boote, Flugzeugträger, Angelbote. Und wenn man sich den Überbleibseln der Städte und Autobahnen näherte, fand man auch dort mehr als genug Fahrzeuge jeglicher Art. Aber keine davon funktionierten noch.
Rhian und alle, die vor ihr kamen, hatten mittlerweile vermutlich jede Maschine auseinandergenommen. Alle Einzelteile verwertet und jede Art von Treibstoff in Kanister gefüllt, datiert, dokumentiert und eingelagert.

Rhian näherte sich einem Platz, den nur sie hätte erkennen können. Es war ein Fleck grauer, zerborstener Erde. So wie jeder Fleck hier aussah. Aber dieser lag im Halbschatten der Stadtruinen und war deshalb zumindest punktuell besser vor der Sonnenstrahlung geschützt als manch anderer.
Seitdem sie denken konnte, war dies der Platz. Sie wusste nicht, vor wie vielen Generationen er schon ausgesucht worden war. Rhian hatte Tove gefragt, die vor ihr dran war, aber sie hatte es auch nicht gewusst.
Da die Bremsen des Lasters nicht mehr funktionierten, musste Rhian den Wagen ausrollen lassen. Über die Jahre hatte sie gelernt, jede Eigenheit des Lasters auszutarieren und kam genau dort zum Stehen, wo sie stehen musste.

Sie stieg aus und ließ ihren Blick über die kahle Landschaft streifen. Mit dem Gewehr im Anschlag betätigte sie einen abgewetzten Hebel am Laster, der früher angeblich mal blau war. „Wegen des Wassers“, hatte Tove gesagt, aber der Sinn dahinter hatte sich Rhian nie erschlossen, und wenn sie fragte, was Wasser mit der Farbe Blau zu tun hatte, gab Tove keine Antwort.
Über das Husten des Motors legte sich erst ein Surren, dann ein Gluckern. Rhian trat einige Meter vom Lastwagen zurück und schaute zu, wie die ersten Regentropfen auf den Boden klatschten. Fast als würde die Erde schlafen dauerte es immer einen kurzen Moment, bis sie das Wasser aufnahm. Rhian ließ sich auf ihre Knie fallen, stützte sich mit dem Lauf ihrer Waffe auf dem Boden ab und sah den dicken Tropfen dabei zu, wie sie langsam in die beton-harte Erde sickerten. Das Wasser trommelte auf ihren Helm, lief in Schlieren am Glas hinunter und fiel zu Boden. Der saugte sich voll, schwoll an; die Erde atmete ein.
Rhians Blick sprang haken-schlagend über den Boden, sie sah, wie die Erde dunkler wurde, sich kleine Pfützen bildeten. Ihr Blick blieb hängen. Sie fiel fast über ihre eigenen Füße, so schnell war sie auf und nach vorne gesprungen. Wieder kniete sie sich hin, dieses Mal sehr langsam.
Behutsam.
Ehrfürchtig.
Rhian lehnte sich hinunter und betrachtete den Fingernagel-großen, grünen Keimling.

© Marie Rosum 2023-06-08

Genres
Romane & Erzählungen, Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Abenteuerlich, Emotional, Hoffnungsvoll, Mysteriös