Die Rolltreppe

Barbara Riccabona

von Barbara Riccabona

Story

Heute nehme ich nach dem Aussteigen aus der Straßenbahn eine Rolltreppe hinauf zur Hauptstraße. Plötzlich kommt eine Erinnerung hoch, so klar, dass ich mich umdrehe und auch alle Seiten begutachte. War es hier, passierte es hier? Es sieht so aus. Ich bin weder traurig noch wütend, obschon betreten oder sogar etwas bedrückt.

Meine Mutter ist fünfundneunzig und ich habe allerlei Fahrten mit ihr zu erledigen. Ich begleite sie und muss sagen, dass es immer Schwerstunternehmen sind, weil sich meine Mutter nie zwischen ‘jemanden tatsächlich benötigen’ und ‘von niemandem Hilfe annehmen wollen’, entscheiden kann. Entsprechend ärgerlich ist sie immer, wenn sie mich braucht. Sie fährt mit den Öffis, das ist bequem für sie. Wir fahren also mit dem Bus bis zur Straßenbahnumsteigestelle in der Unterführung und sie zeigt mir den Lift, mit dem sie immer hinunterfährt. Das finde ich sehr gescheit. Ich muss betonen, dass sie bestimmt, wie es zu sein hat. Ich stelle mich darauf ein, nehme mir Zeit, denn es geht natürlich langsam vonstatten.

Die Straßenbahn fährt nach einer kleinen Schleife wieder aufs normale Straßenniveau, so können wir an der Haltestelle direkt vor der Ordination des Arztes, den meine Mutter aufsuchen muss, aussteigen. Mit dem Gehstock geht sie langsam vor mir her. Ich glaub, mich braucht sie ohnehin nur zur psychologischen Unterstützung. Beim Arzt muss sie über drei Stiegen in einem alten Haus hinaufsteigen. Lift gibt es keinen. Ich bleibe hinter ihr. Sie geht langsam, aber bringt es gut zuwege.

Beim Arzt tut sie geschickt mit, macht klare Aussagen. Ich sehe, der Arzt mag sie, er kennt sie schon länger und schätzt sie. Sie bringt auch immer “Aufmerksamkeiten” den Ärzten und ihren Mitarbeiterinnen mit. Ohne viel Aufhebens stellt sie das Mitgebrachte hin.

Nach vollbrachter Untersuchung gehts wieder heimwärts. Wir kommen heil zur Unterführung, aber diesmal bildet sich meine Mutter ein, die Rolltreppe zu nehmen: “Warum nicht den Lift, wie vorher?” “Weil ich das immer so mache”. Na gut, ich komme eh nicht aus.

Sie fährt rauf, ich stehe hinter ihr. Meine Mutter ist kräftiger als ich, sie trägt eine dicke Pelzjacke, Hut, Absatzschuhe und den Stock mit Tasche um ihren linken Arm. Auf einmal, ohne ersichtlichen Grund, lässt sie den Handlauf los und fällt nach hinten. Auf mich drauf, und wir beide stürzen rücklings die Rolltreppe hinunter. Das Gewicht meiner Mutter drückt mich förmlich auf die scharfen Kanten der Stahltreppe. Oben stehen wir an, ich kann mich erheben, die Mutter liegt schwer in meinen Knien, ihr wird von einem starken Mann über den Treppenwulst geholfen, von allein wären wir nie drübergekommen.

Mein Rücken ist blau gestriemt, die Knie werden bei diesem Unfall so beschädigt, dass ich etwas später eine Meniscusoperation benötige, von der ich mich nicht so schnell erhole. Meine Mutter sagt: “ So etwas ist mir noch nie passiert. Zum Glück ist niemand hinter uns zu Schaden gekommen”.

“Du bist auf mich gestürzt, Mama!“

© Barbara Riccabona 2021-11-05

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