In der Tierwelt geht es eher selten empathisch zu. Leben und leben lassen, oder auch Fressen oder gefressen werden, sind die üblichen Überlebensstrategien. Im eigenen Rudel oder auch innerhalb der eigenen Art ist Hilfe in der Not angesagt. Krank, sollte man nicht werden, da ist schnell mal die Solidarität erschöpft. Das einheitliche Ziel ist die Erhaltung der Art, das ist jedem Tierchen in seinen Genen eingraviert. Soziales Verhalten außerhalb der eigenen Spezies ist selten, außer es bringt Vorteile für die evolutionäre Entwicklung oder wirkt sich positiv auf die Verbreitung der Art aus.
Aber so ganz genau weiß man es natürlich nicht, es könnte auch Netzwerke in der Tierwelt geben, von denen wir nicht die geringste Ahnung haben. Meine volle Aufmerksamkeit widme ich zurzeit den Hirschkäfern, deren Leben großteils für uns Menschen unsichtbar bleibt. Nach der Paarung legt das Weibchen etwa zwanzig Eier in circa 50 cm Tiefe nahe der Wurzelstöcke kranker oder toter Eichen und Buchen ab. Hier verbringen die Larven drei bis sieben Jahre, je nach Ernährungslage und Genetik. Um das Wachstum voranzutreiben, fressen sie Unmengen moderndes Holz und tragen somit auch zur Humusbildung des Waldbodens bei. Den ultimativen Schliff bekommen sie während der letzten sechzig Tage, in der sogenannten Puppenschaukel. Danach sind die Käfer fertig ausgeformt und wühlen sich voller Tatendrang an die Oberfläche
Welchen Eindruck mag wohl diese neue Welt auf den Neuling machen? Laut, hell, riesig, aufregend, wohlriechend und wahnsinnig bunt, oder lähmend kalt, grell, bedrohlich, ungeordnet, einer Panik-Attacke nahe? Der erste Flug, Freiheit pur? Als ich vor einer Woche in der Dämmerung im nahegelegenen Auwald unterwegs war, konnte ich fliegende Hirschkäfer sehen. Das ist ein seltsames Schauspiel, die Käfermännchen sind sehr groß und fliegen laut brummend, etwas ungeschickt wegen ihres großen Geweihes, durch die Lüfte. Auf der Suche nach Nahrung und einem paarungswilligen Weibchen versuchen sie wohlbehalten auf einem Ast zu landen. Das ist nicht einfach, denn meist gilt es, außer das Gleichgewicht zu bewahren, auch noch andere Bewerber in die Flucht zu schlagen. Kämpfe, die oft tödlich enden stehen auf der Tagesordnung. Die natürlichen Feinde, wie Spechte, Eulen oder auch Füchse, stellen auch eine ständige Bedrohung dar. Die weiblichen Hirschkäfer sind kleiner und dadurch wendiger. Ihr Flug ist eleganter, sie suchen sich einen schönen Eichenast, landen ohne Schwierigkeiten punktgenau, bohren mit ihren kurzen aber kräftigen Zangen Löcher in die Rinde und schlürfen genüsslich ihren Eichensaft-Aperitif, während sie nach einem geeigneten One-Night-Stand Ausschau halten.
© Christine Hagelkrüys 2023-07-16