Die roten Stiefel Teil 1

Anne Michel

von Anne Michel

Story

Es ist Winter und bitterkalt. Seit ein paar Tagen versinkt der Ort unter einer geschlossenen Schneedecke und alle Straßen sind vereist. Nach dem Gesetz ist jeder Bürger verpflichtet vor seinem Grundstück auf Gehwegbreite gründlich und großflächig zu streuen, damit sich die Bevölkerung gefahrlos im Freien zu bewegen vermag. Annes Eltern verteilen, wie fast alle Nachbarn, meistens die vorhandene Asche aus dem Kohlenofen. Das ist eine billige und sehr effektive Lösung. Der Verbrennungsrückstand lässt den Schnee schnell stumpf werden und reduziert dadurch die Unfallgefahr erheblich. Wegen des Glatteises ist es strikt und bei Strafe verboten, Flüssigkeiten, gleich welcher Art, in die Rinnen vor den Häusern einzuleiten. Ein städtisches, unterirdisches Kanalnetz gibt es zwar, aber nur wenige Haushalte sind direkt daran angeschlossen. Deshalb laufen alle Abwässer normalerweise über die breiten Rinnsteine in die Gullys am Ende einer jeden Straße. Die Verordnung stellt die Menschen vor große Probleme. Die Möglichkeiten, das täglich anfallende Abwasser zu entsorgen, sind im Winter sehr begrenzt. Und so schüttet fast jeder, ab und an Wasser in die Rinne vor dem Haus. Für die Kinder des kleinen Ortes, die idealen Voraussetzungen, die zugefrorenen Rinnsteine zur Eisbahn umzufunktionieren. Manchmal kratzen Anne und ihre Geschwister, abends nach dem sie beim Bauern die Milch geholt haben, heimlich die Asche wieder runter und schütten einen Eimer Wasser darüber. In der Hoffnung, dass sich bis zum nächsten Morgen die Abflussrinne zu einer Eisbahn verwandelt hat. So wird es möglich sein, morgens vor Schulbeginn schnell noch ein paar Runden schlittern. So wie heute. Im allerletzten Moment trifft Anne in der Schule ein, wo sie schon ungeduldig von Ihrer Freundin Gabi erwartet wird. Diese schlenkert mit einem Bein wie ein Hampelmann und schreit: «Anne schau, ich hab funkelnagelneue Stiefel». Die Stiefel sind aus rotem Leder und haben an den Seiten kleine helle Flecken aus Fell. Anne streicht vorsichtig darüber. Der Pelz ist wunderbar weich und die Stiefel sehen so warm aus. Gabi ist außer sich vor Glück und stolziert wie der gestiefelte Kater vorne weg in den Klassenraum. Anne freut sich mit der Freundin. Schuhe sind sehr teuer und werden, wenn der stolze Besitzer herausgewachsen ist, meistens von einer zur nächsten Generation weiter gereicht. Deshalb ist neues Schuhwerk etwas ganz Besonderes. Anne hatte noch niemals neue Stiefel. Sie schaut seufzend auf ihre Füße und sieht sich die alten, klobigen Dinger, die sie trägt, genauestens an. Elegant sind sie ja nicht, findet sie, aber wenigstens halten sie meine Füße warm. Fortsetzung im Teil 2

© Anne Michel 2021-12-14

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