Die Ruine

Silvia Peiker

von Silvia Peiker

Story

Akazien, Eichen und Föhren werfen ihre mächtigen Baumschatten auf die verwitterte, graue Ruine mitten im Wald. Verborgen im Grün und dem Verfall preisgegeben, fehl am Platz, wie totes, verfaultes Gewebe im organischen Lebensstrudel, fristen die traurigen Reste des seit langem stillgelegten Flugzeughangars ihr kümmerliches Dasein, weitab vom weichen, mit Föhrennadeln und raschelndem Laub bestreuten Pfad. Das Gehölz steht so dicht zusammen, dass selbst das gleißende Licht der Sommersonne zu schwach ist, gegen die Düsternis anzukommen, die diesen Ort umgibt.

Bereits in sehr jungen Jahren war ich bei einem Familienausflug in eine, mit Strauchwerk und hohen Gräsern zugewucherten, unterirdischen Schacht in der Nähe der stillgelegten Landebahn gestürzt. An den Fall in die Schattenwelt des Zweiten Weltkriegs erinnern mich noch 50 Jahre später ab und zu stechende Schmerzen im linken Knie.

Die Ruine, perfekte malerische Kulisse für Schauerromane, stellt für uns Mädchen die beste Gelegenheit dar, natürlich ohne Wissen unserer Eltern, waghalsige Klettermanöver auszuführen. Mit klopfendem Herzen starre ich zu Gusti hoch, die auf der ausgefransten Ziegelmauer in schwindelerregender Höhe wie eine Seiltänzerin balanciert. Der Abgrund lugt als unheimlicher Schlund zu meiner Freundin hoch, feiner Zementstaub rieselt, als auch ich auf dem zerbröckelndem Mauerwerk versuche, höher zu klettern. Doch so mutig, wie die tänzelnde Gusti, die aufgrund ihrer unerschrockenen Kletterkünste die Herzen der Burschen höher schlagen lässt, bin ich nicht. Doch dieses Mal applaudiert kein mit Testosteron geschwängertes Publikum, außer uns beiden ist da keine Menschenseele. Gusti befindet sich lediglich im ungleichen Wettstreit mit den flinken Eichhörnchen und deren akrobatischen Stunts. Einsame Buntspechte scheinen mit ihren kräftigen Schnäbeln eifrig Beifall zu trommeln, die anderen Waldbewohner halten so wie ich gebannt den Atem an.

Ich halte Gustis akrobatischen Seiltanz mit meiner Klick-Klack- Kamera für die Ewigkeit fest und dränge sie, herunterzusteigen. Nicht zu früh, denn ein unheimliches Surren, das von der gegenüberliegenden Wand kommt, verursacht mir Gänsehaut. Angestrengt versuche ich, die Schatten wegzublinzeln und erkenne ein rundes Nest , das aussieht, als wäre es von geschickten Künstlern aus Ton geformt worden. Das bedrohliche Summen wird lauter, wir haben offensichtlich die Grenze zum Reich der Hornissen überschritten.

Eine Wächterin fliegt zielstrebig in unsere Richtung, wir flüchten, rasen den Abhang Richtung Waldweg hinunter, dicht gefolgt vom dicken Brummer. Ich habe das Gefühl, meine Lungen platzen, meine Ohren dröhnen. Wir wollen nur raus aus diesem Forst!

Helles Licht umfängt uns, als wir die Felder erreichen und unsere Verfolgerin endlich aufgibt. Erleichtert sinken wir an den Rain des abgeernteten Maisackers.

Herzlichen Dank an Jana Kunz fürs stimmungsvolle Foto!

© Silvia Peiker 2022-04-10

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