die Sache mit dem Spiegel

Julia Syndram

von Julia Syndram

Story

Verdorrte Büsche und Felder zogen an mir vorbei. Die glühende Hitze der letzten Wochen hatte die Landschaft zwischen Berlin und dem Rest der Welt in einen grüngrauen Streifen verwandelt, der sich ewig am Horizont entlangzog. Die blauen Sitze der S26 schienen umrahmt von dieser Kulisse warm zu glühen. Von Anfang an hatten die kleinen Quadrate der Polster beruhigend auf mich gewirkt. Ich musste an die Würmchen und die aggressive Leere denken, die diese in mir auslösten. So lange hatten sie in meinem Kopf gekreist, doch nun schienen sie mir neben meinem anderen Ich so irrelevant zu sein.

Früher hatte ich immer das Gefühl gehabt, die grauen Flächen würden mich im Design der U-Bahn-Sitze vereinnahmen wollen. Als wären die primärfarbenen Sprenkel nur Schein, um die wahre, farblose Natur der Bahn zu übertünchen. Wie Anglerfische, die mit ihrem Licht hilflose Tiefseeopfer in ihr Verderben locken.

In einer gewissen Weise schienen mir die Würmchen nun jedoch auch ähnlich zur Großstadt an sich zu sein. Mit ihrem bunten ersten Eindruck erweckte sie ein Gefühl der Nähe, doch dahinter verbarg sich die mir langsam so verhasste Apathie, die Anonymität, das Gefühl, nie ich selbst sein zu können. Sie starrte mich an, durch ihre grauen Augen, nicht nur in der Bahn ja überall war sie da, die Stadt.

Die S-Bahn glitt an Lankwitz vorbei, nun trennten mich nur noch einige Stationen von der Begegnung mit Herbert Petersohn. Der andere Herbert kam mir wieder in den Sinn, der Mann, der die Würmchen zu verantworten hatte. Vielleicht hatte er gar nicht wie Doktor Frankenstein ein Monster geschaffen mit seinem Design. Hatte er Berlin nicht eher den Spiegel vor die Nase gesetzt? „Schau her du schamlose Stadt, schau, was du aus den Menschen machst!“, hätte er statt „Es lebt!“ geschrien haben können, als es vollbracht war.

Doch dann hätten mich seine Würmchen nicht so malträtiert, wie sie es tagein, tagaus taten. Berlins apathische Art zeigte sich ja nicht nur auf Sitzpolstern, da reichte ja schon der penetrante Pissegeruch am Alexanderplatz um zu erkennen, dass hier mehr Schein als Sein herrschte.

Nein, es war vielmehr ein interner Prozess, der in mir durch diese Leere ausgelöst wurde. Als wären die grauen Muster in Wahrheit ich, eine gähnende Leere, die sich in mir schon längst ausgebreitet hatte und die ich durch die bunten Muster zu vertuschen versuchte. Die Sprenkel an Farben der letzte Versuch von Normalität, den ich simulierte.

Der flüchtige Gedanke der Selbsterkenntnis begann in mir zu wuchern, schlug Wurzeln und setzte sich in meinem Kopf fest. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr erschien er mir als die naheliegendste Lösung des Rätsels um die Würmchen. Mein Puls pochte gegen meine Ohren, der Fahrtwind aufgeklappter Fenster ließ Gänsehaut über meinen Körper gleiten. Ich fühlte mich, als hätte ich den Grind einer wuchernden Wunde unbewusst aufgekratzt, nur im jetzt mit einer Wunde konfrontiert zu werden, die ich schon längst vergessen hatte. „Nächster Halt: Teltow Stadt“, brummte die Ansage durch meine Ohren, es war Zeit mein anderes Ich zu konfrontieren.

© Julia Syndram 2024-02-11

Genres
Romane & Erzählungen