von Julia Syndram
Mit einem leisen Flatschen fiel die Nudel von der Plastikgabel in meinen Schoß und rollte von dort zum staubigen Boden weiter. Die mayonnaisige Soße mit ihren kleinen Petersiliensprenkeln versickerte schnell im Stoff meiner schwarzen Hose, übrig blieb nur eine dunkle fettige Spur und der leicht beißende Geruch der Haltbarkeitsstoffe. Er hatte geschmacklich ebenso meine Zunge belegt, sie fühlte sich pelzig an wie ein Teppich. Ich versuchte dem Geschmack mit Cola entgegenzutreten, doch selbst am Boden der Plastikflasche angekommen, blieb der Pelz da wo er war.
Seufzend zündete ich mir eine Kippe an. Auf der Bank neben mir saßen zwei Jungen im Grundschulalter und spielten den Geräuschen nach zu urteilen Pokémon Go auf ihren Handys, aber sie schienen sich an dem Rauch nicht zu stören. Ein lauer Wind blies Ascheflöckchen und den Geruch der überfüllten, aufgeheizten Mülleimer des Monbijou-Parks in meine Richtung. Ich schloss die Augen, aber entspannter wurde ich nicht.
Eine Woche war es jetzt schon her, dass ich Mich im Buchladen gesehen hatte. Trotz aller Anstrengungen hatte ich das Bild des anderen Ichs nicht verdrängen können. Es hallte durch mein Unterbewusstes wider, brannte sich in meiner Retina ein und verfolgte mich bis in den Schlaf. Um mich abzulenken, hatte ich begonnen die mir gegenüberliegende Wohnung über meinen Balkon zu beobachten.
Sie war bis spät nachts vom bläulich flackernden Licht des Fernsehers erfüllt, sodass sich die Schatten der Unmengen an Pflanzen und Gegenständen in ihr erahnen ließen. Manchmal öffnete sich die Balkontür und ein kleines oranges Licht ließ erkennen, dass ihr Bewohner rauchte, aber zu Gesicht hatte ich die Person bisher nicht bekommen. Nur die Form ihrer Schatten, die sich morgens zeitgleich mit mir vor dem Fenster umzogen und ihre Bahnen durch die Wohnung zogen, zeigten mir, dass es sich ebenso um eine junge Frau handeln musste.
Es stillte meine Einsamkeit, die sich seit der Postkarte nur noch mehr zu einem Klumpen in meinen Eingeweiden verformt hatte, zu wissen, dass es noch andere gab, die ein Leben wie ich führten. In der Universität und meinem Alltag war ich ein Gesicht unter vielen. So viele Menschen zogen minütlich an mir vorbei, dass ich ihre Gesichter nicht mehr unterscheiden konnte. Sie blieben eine anonyme Masse, von der ich lediglich ein kleiner Teil war. Es blieb mir nur übrig, mich so sehr wie möglich der Masse anzupassen, um nicht Gefahr zu laufen, negativ aus ihr herauszustechen.
Woher dieses Streben genau kam, wusste ich nicht. Schließlich hatte mir nie jemand gesagt, dass ich mich so zu verhalten hatte. Dennoch entgingen mir die misstrauischen Blicke derer, die ich versuchte wahrzunehmen nicht. Und sie machten mir unbeschreibliche Angst. Denn schlimmer als nicht gesehen zu werden ist nur, als der Andere gesehen zu werden.
Die blau beleuchtete Wohnung meiner Nachbarin hingegen erschien mir wie eine Oase, in der solcherlei Konventionen keinen Platz hatten. Was war schon der Andere, wenn man selbst kein Teil des Ganzen sein wollte?
© Julia Syndram 2024-02-11