Die Sammlerin

Michelle Mück

von Michelle Mück

Story

Als Marlene von dem Kind erfuhr, schien ihr die Welt voller Möglichkeiten zu sein. Die Straßenbahn bot die Möglichkeit sich davorzuwerfen, die Tabletten in ihrem Badezimmerschränkchen boten die Möglichkeit, sie alle auf einmal zu nehmen, jedes Kissen die Möglichkeit sich zu ersticken, jedes Messer die eines gezielten Schnitts… Doch sie traute sich nicht, eine der Möglichkeiten zu ergreifen, denn so sehr sie das Kind loswerden wollte – tatsächlich so sehr, dass sie es in Kauf nehmen würde, sich mit ihm auszulöschen – so fürchtete sie doch noch mehr das Danach: Das was einen Selbstmörder nach seiner Tat empfangen würde.

Also grübelte sie und grübelte sie, während ihre Pullover immer enger wurden, ihre Übelkeit immer stärker, ihre Verzweiflung immer größer. Ihr graute vor dem Moment, wenn ihre Eltern die neuen Rundungen ihres sonst so flachen Körpers entdecken würden, denn so bewundernswert eine schwangere Jungfrau in der Theorie war, so war sie doch in der Praxis wenig glaubhaft. Doch die beiden schienen die weiten Klamotten ihrer Tochter für eine jugendliche Geschmacksverirrung zu halten und bedachten sie nur mit wenigen dezenten Kommentaren, die sie wieder zu ihren weiblichen, aber immer bedeckten Kleidern zurückführen sollten.

An diesen Tagen fühlte sie sich zum Wald hingezogen, der Ruhe in ihre wüsten Gedanken brachte. So war das auch heute gewesen. Nach der Schule war sie nur kurz nach Hause gegangen, um sich zu übergeben, und dann war sie in den Wald gelaufen, gerannt, um bei der Wahrheit zu bleiben, und erst als der Boden kiesig und schließlich lehmig wurde, wurden ihre Schritte langsamer, trabend und ihr Herzschlag ruhig.

Und so war sie wohl weiter gelaufen als bisher, sie hatte keine Ahnung wie lange, denn sie kam zu einer Lichtung, zu der sie vorher noch nie gekommen war. Die Lichtung strahlte einen solchen Frieden aus mit dem zarten Sonnenlicht, das sie durch die Wipfel der Bäume hindurch beschien, dass sich Marlene, kaum, dass sie sie erreicht hatte, in ihre Mitte legte, die Arme weit von sich streckte und ihre grünen Augen schloss.

„Wenn ich doch nur einfach mit dir verwachsen könnte“, sagte sie zu dem weichen Gras, das ihre Haut kitzelte, „wenn du mich doch nur verschlucken würdest, und wir eins wären, für immer.“ Tatsächlich hatte sie das Gefühl, immer tiefer in die Wiese einzusinken, als ob sie nur noch davon umgeben wäre und es ihre Ohren und Augenhöhlen befüllte, denn die Töne des Waldes, die sie umgaben – das Vogelzwitschern und das Rauschen und Knacken der Bäume – wurden immer leiser und die Farben immer dunkler, doch tatsächlich sank sie nicht in das Gras, sondern nurin einen tiefen und unruhigen Schlaf, wie sie ihn schon sehr lange nicht mehr gehabt hatte.

© Michelle Mück 2022-07-18