Die Sauerkirsche

Stella

von Stella

Story

In dem Garten meiner Eltern stand eine Sauerkirsche. Die Kirschen waren „krittesuer“, so nennt man bei uns FrĂŒchte, so sauer, dass sie kaum genießbar sind. Sie wurden auch nicht geerntet. Ich glaube, nur ich pflĂŒckte und mochte sie. Vielleicht, weil wir uns vom Wesen her etwas Ă€hnlich sind.

Ich wĂ€re wohl nie auf die Idee gekommen, selbst einen Sauerkirschbaum zu pflanzen. Doch in unserem jetzigen Garten stand schon ein BĂ€umchen. Es wird morgens als erstes von der Sonne beschienen. Und seine weißen BlĂŒten verströmen einen zarten Duft, der mich jedesmal zum Stehenbleiben zwingt, wenn ich unter ihm hindurch zum Gartentor gehe.

Die Kirschen werden dunkelrot, fast schwarz, wenn sie ganz reif sind. Die SĂŒĂŸe und SĂ€ure der schwarzroten FrĂŒchte sind in ihrer Reife so ausgewogen, dass man kaum noch von Sauerkirschen sprechen möchte. Sie ergĂ€nzen sich mit einer ganz zarten Bitterkeit zu einem Aroma, das aus der Spannung seiner GegensĂ€tze lebt. Vergleichbar einer Dissonanz in der Musik, wenn sie in einer Harmonie aufgehoben wird.

Im letzten Jahr war die Ernte so ĂŒberwĂ€ltigend, dass ich fast zwei Wochen lang tĂ€glich im KirschbĂ€umchen stand, den Kopf in der grĂŒnen Baumkrone, um nach den schönsten rot glĂ€nzenden Kirschen zu suchen. Ich pflĂŒckte sie vorsichtig am StĂ€ngel, PĂ€rchen fĂŒr PĂ€rchen, damit die FrĂŒchte nicht aufrissen.

Das Suchen und Sammeln zwischen den Zweigen, umschirmt vom BaumgrĂŒn, wurde fast zu so etwas wie einer Meditation. In stundenlanger Versenkung konnte ich beinahe nicht aufhören zu suchen, hĂ€tte mich nicht irgendwann der volle Eimer gestoppt.

Das Entkernen mit dem Hand-Entkerner in Form einer Knoblauchpresse dauerte jedes Mal fast doppelt so lange wie das PflĂŒcken. Auch das wurde beinahe zur meditativen TĂ€tigkeit. Denn fast jedesmal, wenn ich alleine im Garten saß und Kirsche fĂŒr Kirsche per Hand entkernte, setzte sich eine Amsel zu mir.

Unsere Gartenamsel erkannte ich an dem leicht beschĂ€digten rechten FlĂŒgel. Meist setzte sie sich auf den untersten, wie eine kleine Schaukel geformten Zweig des PfirsichbĂ€umchens, schaute mich unverwandt an, das Köpfchen immer mal kurz nach links mal nach rechts kippend, und sang mir etwas vor. Das ging Tag fĂŒr Tag so. Und bald hatte ich das GefĂŒhl, das AmselmĂ€nnchen setzte sich nicht nur zufĂ€llig zu mir, sondern wollte mir tatsĂ€chlich Gesellschaft leisten.

Von der Marmelade, den eingelegten Sauerkirschen und dem Sirup, der aus den FrĂŒchten entstand, schwĂ€rmten selbst Nicht-Sauerkirsch-Freunde. So dass ich zu der Überzeugung gelangte, die Amsel mĂŒsse mit ihrem Gesang dem Aroma noch das gewisse Etwas mitgegeben haben.

Die Sauerkirschen fĂ€rben sich gerade schon leicht rot. Und die Ernte scheint wieder ĂŒberwĂ€ltigend zu werden. Mich erwarten wohl wieder einige Stunden mit dem Kopf im KirschbĂ€umchen. Und ich hoffe beim Entkernen der FrĂŒchte auch diesen Sommer wieder auf die musikalische Begleitung unserer Amsel, die seither zu meinem treuesten Gartenfreund geworden ist.

© Stella 2019-06-09