Die Schachtel ist im Stift

Daniel Quaintrell

von Daniel Quaintrell

Story

In meiner Freizeit arbeite ich als Deutschlehrer für Einwanderer. Die Kurse sind ehrenamtlich organisiert und – muss man leider sagen – recht chaotisch. Ein Hauptproblem – neben der Tatsache, dass es kaum Geld für Materialien gibt – ist, dass es manchmal keine wirkliche gemeinsame Sprache gibt. Die Leute können noch kein Deutsch, deshalb sind sie ja da. Und Englischkenntnisse scheinen in der Ukraine, Syrien und den anderen Herkunftsländern nicht allzu weit verbreitet zu sein. Umgekehrt sind meine Kenntnisse in den Sprachen nicht erwähnenswert bzw. gar nicht vorhanden.

Was also tun? Hier entpuppt sich KI tatsächlich als hilfreich. Man kann Übungsaufgaben oder Erklärungen durch Google Übersetzer oder speziell Übersetzungs-KIs wie Deeple oder Vasco schicken. Solange ich nicht selber sowohl Arabisch als auch Russisch kann, ist dies wohl der beste Weg (und selbst wenn ich diese Sprachen lernen würde, würde es immer Schüler aus anderen Ländern geben, die eine ganz andere Muttersprache haben). Trotzdem würde ich es lieber direkt sagen oder zumindest überprüfen können, was die KI da ausgibt. Aus Erfahrung mit Deutsch-Englischen Übersetzungen weiß ich, dass sie eine Menge subtiler Fehler einschleichen können, die nur von einem geübten Menschenauge erkannt werden.

Es gibt bei Maschineller Übersetzung eine Menge interessante Probleme, die sowohl aus der Linguistik als auch aus der Mathematik und Informatik kommen. Der erste Gelehrte, der sich in Vollzeit mit Maschineller Übersetzung beschäftigte, war Yehoshua Bar-Hillel am MIT. Er entsann in den 50ern ein Problem, das ich hier näher beschreiben will:

Nehmen wir den Satz „The box is in the pen“. Nun ist es so, dass das englische Wort pen häufig in der Bedeutung Stift verwendet wird und deutlich seltener in der Bedeutung Stall, obwohl es beide Bedeutungen hat. Trotzdem würde ein Mensch den Satz direkt mit „Die Schachtel ist im Stall“ übersetzen, niemals mit „Die Schachtel ist im Stift“. Das liegt daran, dass wir intuitiv wissen, dass der zweite Satz Blödsinn ist. Mit dem Menschsein kommt eine Lebenserfahrung und eine Kenntnis über Verhältnisse wie Dimensionen usw., wo uns direkt klar wird, welcher Bedeutung Sinn macht und welche nicht. Dem Computer fehlt dieses Wissen, er weiß nur, dass pen häufig mit Stift übersetzt wird und wählt diese Möglichkeit auch hier.

Wie sieht es gut 70 Jahre später aus? Ich hab’s ausprobiert. Bei allen erwähnten Übersetzern kam die Übersetzung „Die Schachtel ist im Stift“. Wenn ich es erweiterte „He went into the stables. The box was in the pen.“ Dann übersetzte die KI richtig mit „Er ging in den Stall. Die Schachtel war im Stall.“ Die KI konnte also erkennen: wenn im Satz vorher von einem Stall die Rede ist, hat das pen im Satz danach wohl mit einer höheren Wahrscheinlichkeit die Bedeutung Stall als Stift. Das ist schon mal sehr viel!

Dann fiel mir ein, dass auch ChatGPT übersetzen kann. Ich wiederholte mein Experiment noch einmal. Und ChatGPT übersetzte auf Anhieb „Die Schachtel war im Stall.“ Da ist mir direkt die Kinnlade runtergefallen.

© Daniel Quaintrell 2024-11-06

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