Die scharfe Zunge

Vielleicht war es immer da, vielleicht wollte ich es früher nicht sehen.

Aber heute sehe ich es deutlicher denn je:

Wie schnell wir kritisieren.

Wie schnell wir verurteilen.

Wie oft das Urteil von Menschen kommt, die selbst nie Raum hatten.

Und wie laut es dann wird – oft gefolgt von vulgären Ausdrücken, die klingen, als kämen sie nicht aus dem Schmerz, sondern aus der Überzeugung, im Recht zu sein.

Frauen kritisieren andere Frauen – wenn diese laut aussprechen, was sie selbst nie durften.

Männer reagieren mit Beleidigung, wenn eine Einladung nicht mit einem Lächeln beantwortet wird.

Es ist nicht persönlich, sagen viele.

Aber was, wenn es das doch ist?

Was, wenn das alles nicht Mut ist, sondern nur geerbte Bitterkeit?

Was, wenn das kein Stolz ist, sondern nur das Echo verletzter Egos?

Ich frage mich, wie viel von dieser sogenannten Direktheit eigentlich nur Abwehr ist. Wie viel von diesen „ehrlichen Meinungen“ nur Projektionsflächen. Wie oft wir einander nicht sehen, sondern einander benutzen, um unseren Frust irgendwo abzuladen.

Wir sagen oft, wir seien „Familienmenschen“, dass wir „zusammenhalten“.

Aber was ist das wert, wenn wir nicht lernen, uns achtsam zu begegnen?

Worte sind Waffen geworden. Und gleichzeitig klagen wir, dass wir so müde sind. Vielleicht, weil wir einander ständig treffen, wo wir eigentlich halten sollten.

Es ist Zeit, dass wir erkennen:

Es ist nicht stark, andere kleinzumachen.

Es ist nicht Ehre, aus Wunden zu sprechen.

Und es ist nicht Tradition, sich selbst zu verlieren.