Die Schlaflieder des Nachtalbs – Intro

Sebastian Krebitz

von Sebastian Krebitz

Story

Dunkle Besucher

Während des Schlafs ist unser Körper gelähmt. Es ist eine natürliche Funktion der Skelettmuskulatur und verhindert, geträumte Bewegungen tatsächlich auszuführen. Sobald wir erwachen, verschwindet die Lähmung augenblicklich – zumindest sollte das so sein. Doch bei manchen Menschen ist das nicht immer der Fall. Das Phänomen wird als Schlafstarre oder Schlafparalyse bezeichnet und geht häufig mit albtraumhaften Erfahrungen einher. Diese Merkwürdigkeit ist schon sehr lange bekannt. Bereits im 17. Jahrhundert war in ganz Europa die Vorstellung verbreitet, dass ein Nachtalb, ein dämonisches Wesen, seine Opfer im Schlaf heimsuche und für diese Erlebnisse verantwortlich sei.

1781 zeichnete der Schweizer Künstler Johann Heinrich Füssli sein größtes und zugleich rätselhaftestes Kunstwerk „Der Nachtmahr“. Das Gemälde zeigt eine schlafende Frau, hilflos über das Ende ihres Betts drapiert. Ein Nachtalb hockt auf ihrem Körper und flüstert ihr stetig zu. Hinter ihr, im dunklen Schatten, ragt ein dämonisches Pferd mit roten Augen aus der Dunkelheit hervor.

Meine Gedanken kreisen immer um dieses Gemälde, sobald ich an Gabriel denke. Der freundliche und charismatische Mann leidet an solchen Schlafparalysen. Gabriel redete nie über seine Erfahrungen damit und erwähnte sie im Laufe unserer Freundschaft ganz beiläufig. Doch an einem regnerischen Nachmittag, ich erinnere mich noch an den Duft von Anis, der aus meiner heißen Tasse Tee aufstieg, fragte ich ihn, ob er mir nicht ein paar dieser Erlebnisse schildern wolle. Er zierte sich anfangs, doch gab schlussendlich nach. Mit seinem Einverständnis habe ich aus diesen Erzählungen nun zwölf Geschichten gemacht. Ich werde nie vergessen, wie das Lächeln in seinem Gesicht verlosch, als er unser Gespräch mit den Worten begann: „Ich weiß nicht, warum ich an diesen Schlafparalysen leide. Sie kommen unregelmäßig und in großen Abständen. Aber wann immer es passiert und ich die Augen öffne, mich aber keinen Millimeter bewegen kann, ist mein erster Gedanke: Ist das der Anfang oder das Ende? Denn ich liege nur da, kalt und starr, wie die Toten selbst.“

Lasst Gabriels Worte ein Licht sein und begebt euch auf einen finsteren Pfad. Hört die Schlaflieder des Nachtalbs, wie ich sie nenne.

© Sebastian Krebitz 2021-07-16

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