Ich war heute wütend, denn ich hatte Angst.
23/59 Uhr: Bremsen quietschen, Zugluft vermischt sich mit Nachtluft, als ich nach draußen trete. 24/00 Uhr: Mit schnellen Schritten bewege ich mich vom Bahnhof weg, die Schlüssel in meiner Hand. Den Trick habe ich Online gesehen. Die Schlüssel zwischen den Fingern geben einem Verteidigungsschlag mehr Nachdruck. Innerlich rüge ich mich dafür, nicht endlich das Pfefferspray gekauft zu haben. Ich hatte es schon lange vor. Ich bin wütend, denn ich habe Angst. Und es tut mir leid, dass ich sie habe.
Hinter mir höre ich eine Gruppe junger Männer. Ich versuche daran zu denken, dass auch sie einen schönen Abend hinter sich haben. Gutes Essen, viel Gelächter. Alkohol. Hoffentlich nicht zu viel. Schon wieder rüge ich mich. So zu denken, ist nicht richtig. Tut mir leid, flüstere ich. Unsere Heimwege treiben uns in dieselbe Richtung. Ich beschleunige die Schritte, bin schon so schnell, dass mir die Füße weh tun. Nicht schnell genug. Ich sehe immer das Beste in den Menschen. In allen. Nachts sieht die Welt anders aus.
00/04 Uhr: Gleich habe ich mein Ziel erreicht. Hinter mir Gelächter. Nette Menschen, die einen schönen Abend hatten, so wie ich. Ich verstehe nicht, warum die Angst fest in meinem Kopf verankert ist. Vorbei an der flackernden Laterne, direkt vor meiner Tür. Ich löse den Griff um meine Schlüssel und kann plötzlich spüren, wie sehr sie sich in meine Hand gebohrt haben. Zittrig öffne ich die Tür und betrete den erhellten Flur. Die Tür fällt hinter mir zu. Erleichtert atme ich auf. Ich rüge mich. Es ist lächerlich, wegen 400 Metern so einen Stress zu machen, oder? Vor der Tür sehe ich die Gruppe junger Männer vorüberziehen. Ein paar Frauen sind auch unter ihnen. Eine Gruppe netter Menschen, die einen schönen Abend hatten, so wie ich. Aufgefallen bin ich ihnen sicher nicht. Tut mir leid für die Angst, denke ich.
Ich drehe mich um und gehe zu meiner Wohnungstür. Ich schließe auf, trete ein und die wärmende Sicherheit heißt mich willkommen. Ich schließe die Augen und rutsche an der Tür hinab auf den kalten Fußboden. Mit dem Kopf im Nacken versinke ich in meinen Gedanken. Ob es mit Pfefferspray leichter wäre? Würde ich mit denselben schnellen Schritten auf meine Sicherheit zuhetzen? Liegt es an mir und daran, dass ich gerne überreagiere und mir Gedanken mache, viel zu viele? Die Augen geschlossen, erinnere ich mich an den Tag, als ein 50-jähriger mir seine Nummer gab und ich als 13-jähriges Mädchen noch nie zuvor so verängstigt war. Ich fühle die Wut, die in mir kochte, als ich 18 war und ein Auto voller junger Männer hupend und gröhlend neben mir herrollte. Wir Frauen sollten uns geschmeichelt fühlen, nicht wahr?
Ich bin wütend wegen der Angst, aber nicht wütend auf mich. Ich bin wütend darauf, dass Frauen gezwungen sind, Angst zu haben und, zur Sicherheit, immer alles genauer zu hinterfragen. Ich stehe auf und lege die Gedanken beiseite. Ich will nicht mehr daran denken. Ich hatte einen schönen Abend heute.
© Marie Annett Moser 2022-06-13