von Shila Bli
“Dein Name ist?”, fragte sie leise. Und da sah ich es: Grauer Schimmer lag auf ihren Augen wie Wolken. Sie waren nicht silbern. Sie war blind. Sie konnte mich nicht sehen. Sie konnte nicht sehen, dass ich weinte, dass meine Hände zitterten. Sie wusste nicht, dass ich sie ansah und mich sah. Meine vollen Lippen, meine breite Nase, meine Locken. Sie konnte nicht wissen, dass ich zum ersten Mal jemanden wie mich sah.
“Elijah.”
“Hallo Elijah.“ Es war keine Wärme in ihrer Stimme und ich realisierte, dass das hier kein einfaches Treffen zwischen Unbekannten war. Es war eine Transaktion.
“Ich – Ich – Ich sehe aus wie du.” Ich wusste nicht, wie ich es ihr erklären sollte. Sie legte den Kopf schräg, doch sagte nichts. “Deine Haare. Meine Haare. Ich meine – Darf ich?” Ich näherte mich ihr langsam, nahm ihre Hand und führte sie an meinen Kopf. Sie schreckte nicht zurück und ihre Unterwürfigkeit stach wie ein Dolch in mein Herz. Sie war es gewohnt, nicht die Kontrolle über ihre Bewegungen zu haben.
Als ihre Finger meine Haare berührten, lächelte sie. Wortlos glitt ihre Hand entlang meiner Stirn, berührte meine Nase und meinen Mund. Zwei flache Hände lagen auf meinem Gesicht. Ihre Finger folgten der Kurve meiner Oberlippe. Wärme schoss mir vom Magen in den Kopf. Ihr Lächeln wurde breiter.
“Du bist wunderschön”, sprach sie und ich zerbrach in tausend Splitter. Noch nie hatte mich jemand schön genannt. Noch nie hatte jemand diese Lippen berührt. Noch nie hatte mich jemand wahrhaftig gesehen. Doch die Schöne ohne Augen sah mich.
“Wunderschön”, wiederholte sie leise, als ihre Hände über meine Ohren und meinen Hals glitten. Ich hätte auf ewig in diesem Moment mit ihr verweilen können, doch die Tür öffnete sich und mein Märchen fand ein Ende.
“Fünf Minuten sind vorbei!”
Ihre Schwester begleitete mich aus dem Zimmer und deutete dem nächsten Mann den Raum zu betreten. Bevor ich realisierte, was geschah, fand ich mich auf der Straße wieder.
Meine Fingerspitzen fuhren über meine Lippen, wo eben noch ihre gewesen waren.
“Wunderschön”, hallte ihre Stimme in meinem Kopf wieder. “Wunderschön.” Mein Herz pochte, raste und ich wusste nicht, wohin mit mir in der Dunkelheit der Nacht. Ich hatte sie gesehen, die Schöne und ich würde ihren Anblick nie vergessen. Stundenlang lief ich durch die Straßen, begegnete Betrunkenen und Liebenden, doch in dieser Nacht war keiner so verloren wie ich. Der Gedanke sie nie wieder zusehen nahm mir den Atem aus der Lunge. Bevor die Sonne aufbrach, wurde mir klar, dass ich sie entführen musste. Ich musste die Schöne vor einem Leben als Anschauungsobjekt, als Kunstwerk, als wandelnden Zirkus retten. Morgen Nacht würde ich sie zu meinem machen.
© Shila Bli 2022-08-31