Stationsglocke. Schon wieder Frau M. Blöde Entwässerungsmedikamente. Ich bin gerade mitten in einer OP-Vorbereitung, aber meine Kollegen sind beschäftigt, also geh ich auf die Glocke. Ich spaziere nach kurzem Klopfen ins Zimmer, schalte die Glocke aus und lächle Frau M. freundlich an. „Bitteschön, Frau M.“, sage ich. „Ich muss Lulu.“, kommt die erwartete Antwort. Sie schlägt die Decke weg, setzt sich auf und ich helf ihr beim Aufstehen. Frau M. ist 87 Jahre alt, ein stolzes Alter. Die Haare in graublau gefärbt und perfekt dauergewellt. Sie ist klein, etwa nur noch 1,50 cm, und durch ihre gebückte Haltung wirkt sie noch viel kleiner, fast winzig. Mit dem Rollator düsen wir gemeinsam richtung Badezimmer. Währenddessen redet Frau M. ohne Punkt und Komma. Ich werfe ein gelegentliches „Aha“, oder „Ach so“ ein, weil ich eh nicht zu Wort komme. Kurz vor dem Badezimmer bleibt Frau M. abrupt stehen und schaut mich an. Zwickt, wegen dem schlechten Sehvermögen, die Augen zusammen und kommt mit ihrem Gesicht meinem ganz nahe. „Ah, Sie sands! Die Schwester mitn Nasenring!“, ruft sie erfreut aus. „Ja, SIE mag ich. Sie sind eine ganz eine Liebe.“, fügt sie hinzu und setzt den Weg ins Bad dann fort. Ich freu mich. Ich bedanke mich für das Kompliment und muss wegen der „Schwester mit dem Nasenring“ schmunzeln. Im Bad angekommen und nach vielen weiteren Erzählungen schnappt sie mein Handgelenk und hält es ganz nahe an ihr Gesicht. Die Augen wieder zusammengekniffen, wodurch das Gesicht noch mehr Falten bekommt, starrt sie auf mein Handgelenk, wo ein kleines Tattoo zu sehen ist. „Ah, so scheeeen! Des gfollt ma so guat!“, ruft sie entzückt aus. „Wirklich? Ihnen gefallen Tattoos?“, frage ich, teils amüsiert, teils überrascht. „Ja, sooo schen find i des! I sog´s Ihnen, wenn i no mal 10 Jahr jünger wär! Des wär es erste was i ma machen lossat! A Tattoo! So fesch!“, sagt sie voller Überzeugung. Das Bild einer zehn Jahre jüngeren, also 77-Jährigen, Frau M., die mit dem Rollator ein Tattoostudio betritt, taucht in meinem Kopf auf und ich muss mich bemühen, nicht laut los zu lachen. „Und Piercings gefallen Ihnen auch?“, muss ich nachfragen. „Jaaa, sicher. So schen. Wenn i no mal 10 Jahr jünger warat! Sofort, i sags Ihnen.“. Gut, jetzt hat die 77-Jährige Frau M. in meinem Kopf auch noch einen Nasenring und ein Piercing in der Augenbraue bekommen. „Ham´s noch mehr Tattoos?“, fragt sie mich, als sie auf der Toilette sitzt und – wie sie sagt – „Lulu“ macht. Ich zeig ihr noch meinen Schmetterling auf der Schulter und das Glitzersteinchen, ein Anchor, in meinem Dekolletee. Frau M. überschlägt sich beinahe vor Begeisterung. „So modern! So schen! Na, wenn i 10 Jahr jünger warat! Sofort, i sags Ihnen!“, sagt sie.
Den Rest des Tages amüsier ich mich über das Bild von Frau M., voller Piercings im faltigen Gesicht, mit blaugrau gefärbter Dauerwelle, die in gebückter Haltung mit Rollator ein Tattoostudio betritt. Danke, Frau M., you made my day!
© Melly Schaffenrath 2020-04-22