von Anne Michel
In meiner Kindheit wurde alles, was mit dem 2. Weltkrieg zu tun hatte, totgeschwiegen. Man tat so, als hätte es diese verheerende Zeit niemals gegeben. Man redete nicht über den Nationalsozialismus. Über die Judenverfolgung und die ethnischen Säuberungen sprach man schon gar nicht. In der Schule endete der Geschichtsunterricht bei der Weimarer Republik. Das Spärliche, was ich über diese Zeit weiß, verdanke ich den Erzählungen meiner Oma. Dass mein Vater schwer traumatisiert aus dem Krieg zurückgekommen ist, kann ich mit Bestimmtheit sagen. Ich stelle mir einen 18-jährigen jungen Mann vor, an der Schwelle zum Erwachsen werden, mit Träumen und Zielen.
Einen Jugendlichen, geboren 1925, der in puncto Erziehung, die volle Breitseite der Nazi Ideologie mitbekommen hat. Einen äußerst sensiblen Menschen, der durch seine persönliche Geschichte ohnehin nicht der psychisch Stabilste war. Diesem jungen Mann drückte man ein Gewehr in die Hand, transportierte ihn wie ein Stück Vieh, in einem Güterwagon nach Frankreich, damit er dort gegen die Erbfeinde des Großdeutschen Reiches kämpft. Ich stelle mir einen innerlich zerrissenen Jüngling vor, der nicht begreift, warum und weshalb er auf Menschen schießen soll. Sie zu verletzen, oder in letzter Konsequenz töten soll. Ich erinnere mich nicht, jemals gesehen zu haben, dass mein Vater ein Tier getötet, es schlecht behandelt oder verletzt hätte.
Auch erinnere ich mich nicht, dass er sich, in irgendeiner Art und Weise, abwertend über Menschen anderer Religionen, Nationalitäten, Kulturen oder ethnischen Minderheiten geäußert hätte. Dafür erinnere ich mich aber sehr gut, wie er mich einmal zusammen stauchte, weil ich einen Abzählreim, den ich auf der Straße aufgeschnappt hatte, nachgesungen hatte. Dieser Reim handelte von einem Juden, der darin in einer sehr verunglimpfenden Art und Weise dargestellt wurde. Auch über Juden sprach man nicht. Ich kannte keine Juden.
Ich kannte die Juden aus der Bibel. Aber dort nannte man sie die Israeliten. Ich hätte diese niemals mit dem Juden in dem Reim in Verbindung gebracht. Er packte mich unsanft am Arm und sagte drohend: „Nie mehr will ich hören, dass du so ein abscheuliches Lied singst. Nie mehr. Hast du mich verstanden?“ Sprachs, ging ins Haus und ließ mich verwirrt zurück. Ich hörte ihn noch murmeln: „Man hat ja gesehen, was dabei herauskam“. Ich befragte die Pflegemutter meines Vaters. Und sie erzählte von fürchterlichen Ereignissen: Von der Reichskristallnacht, als man die Wohnungseinrichtungen der jüdischen Nachbarn, aus dem Fenster warf und anzündete.
Von behinderten Menschen, die abgeholt wurden und nie mehr zurückkehrten. „Dein Vater wurde 1946, krank an Leib und Seele aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Die Kleidung schlotterte um seinen mageren Körper“. Ihre Stimme wurde sehr leise und brüchig.“ Und jetzt schweig still. Ich will nicht mehr darüber reden. War ohnehin schon zu viel, was ich gesagt habe“.
© Anne Michel 2021-03-22