Die Stille und die Zeit

Bianca Teubl

von Bianca Teubl

Story

„Na, meine Hübsche, hattest du eine angenehme Nacht?“, fragte sie noch recht schlaftrunken die Kaffeemaschine, während sie sie einschaltete. Umgehend begann das alte, mehrfach servicierte und somit vor dem Nirwana gerettete Gerät die Stille der halbleeren Wohnung mit seinem vertrauten Gluckern zu durchbrechen. Der sich in alle Winkel des Wohnraums ausbreitende aromatische Duft erweckte innerhalb weniger Augenblicke die meisten ihrer Sinne zum Leben. Den Rest würde in wenigen Minuten die schwarze, starke Brühe erledigt haben. Wie viel Zeit diese Morgenroutine in Anspruch nahm, wusste sie inzwischen nicht mehr. Sie hatte vor Wochen aufgehört, auf die Uhr zu sehen. Mit nur einem Arbeitstag pro Woche, diesen noch dazu am privaten Schreibtisch abwickelnd, war man darauf auch nicht mehr angewiesen. Der Stand der Sonne genügte einfach, um alles Anstehende rechtzeitig zu regeln. Sollte eines der seltenen Online-Meetings stattfinden, erinnerte sie der Computer pünktlich daran, endlich den Pyjama gegen Büro-taugliche Kleidung auszutauschen. Also zumindest das Oberteil. Manchmal, wenn sie wirklich ausgesprochen guter Laune war, kämmte sie sich sogar die Haare. Sie beschloss, dies heute auch zu tun. Ihre Motivation war allerdings nicht, dass sie für die anstehende Besprechung halbwegs präsentabel aussehen wollte, sondern ihr nicht mehr existentes Zeitgefühl: Sie konnte sich schlichtweg nicht mehr erinnern, wann sie ihren Haaren zum letzten Mal die nötige Aufmerksamkeit in Form einer Bürste geschenkt hatte. Höchstwahrscheinlich nach der letzten Wäsche. Doch wie lange war die nun schon her? Zwei Tage? Drei? Länger? „Hast du das vielleicht auf dem Schirm?“, fragte sie den Computer. Der übte sich jedoch stoisch in Schweigen. „Gut, dann eben nicht“, murmelte sie in die Stille der Wohnung hinein. Während sie online die wichtigsten Schlagzeilen überflog, trank sie die letzten Schlucke ihres Kaffees aus. Dieses Bisschen Routine war der letzte Funken Normalität, der ihr aus ihrem alten Alltag noch geblieben war. Er dauerte genau so lange, bis die Sonne vollständig aufgegangen war. An jedem anderen Tag würde sie jetzt dazu übergehen, den recht überschaubaren Inhalt des Kühlschranks zu überprüfen, Ski fahren gehen zu wollen und die Idee wieder zu verwerfen, sinnlos den Webbrowser zu öffnen und wieder zu schließen, oder ein Buch in die Hand zu nehmen, um es umgehend auf die Seite zu legen – und die ganze Prozedur rastlos und unentspannt wieder von Neuem zu starten. Manchmal, wenn die Zähigkeit von Stille und Zeit im Paarlauf gar nicht auszuhalten war, schaltete sie den Fernseher ein. An diesem Morgen jedoch läutete endlich der Alarm am Computer. Endlich hatte sie wieder einen Grund, sich Bluse und Blazer anzuziehen. Für mindestens eine Stunde konnte sie endlich wieder ihre stark verpixelten Kollegen sehen. Endlich war in ihren vier Wänden etwas anderes zu hören als diese ohrenbetäubende Stille.

© Bianca Teubl 2021-04-10

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