von Gabriele Leeb
Er horcht in sich hinein. Das ist sie wieder, diese Stimme.
Seit Jahren hört er des Öfteren eine Stimme in seinem Kopf. Sie ist sanft und relativ leise, aber sehr exakt in der Ausdrucksweise. Auch als Kind vernahm er Stimmen. Viele verschiedene. Er war ein sehr fantasievolles Kind und niemand in seiner Umgebung fand das schlimm. Das wächst sich schon heraus.
Nun, in seinen Vierzigern gibt es diese eine Stimme. Zeitweise spricht sie Monate nicht mit ihm, dann wieder kommt sie ein paar Mal am Tag. Er versucht sie so gut es geht zu ignorieren. Jedoch, in letzter Zeit fällt sie ihm auf die Nerven. Sie macht in vollkommen unpassenden Momenten auf sich aufmerksam. Er wollte diese wunderschöne Frau gerade küssen und plötzlich: „Das willst du doch nicht wirklich tun, oder?“ Es irritierte ihn so und seine Erregung verschwand. Die Dame fand das gar nicht nett und verließ fluchtartig sein Haus.
Ein anderes Mal hielt er einen Vortrag in der Firma über Verbesserungen im Herstellungsablauf und da hörte er sie erneut: „Das ist doch völliger Unsinn, was du da redest. Du schweifst viel zu sehr aus. Kurz und prägnant ist die Devise!“ Mit eiserner Disziplin beendete er seine Rede und meditierte danach eine Stunde im Garten. Zwei Tage schien sie zu schmollen, am dritten Tag, besser gesagt in der Nacht, hielt sie ihn vom Schlaf ab. Sie quatschte unaufhörlich Sätze ohne Sinn vor sich hin. Sein Kopf schmerzte und an Schlaf oder wenigstens Entspannung war nicht zu denken. Er flehte sie an, doch endlich still zu sein, sie jedoch lachte. Ihr Lachen war unangenehm laut und schrill. Sein Kopf dröhnte und die Schmerzen wurden unerträglich. Er muss sich Hilfe suchen, sonst würde er noch verrückt werden.
Gleich am nächsten Tag ruft er bei einem Psychiater in der Nähe seiner Firma an und erhält für diesen Abend einen Termin. Etwas beruhigter geht er zur Arbeit und der Tag verläuft ohne besondere Vorkommnisse. Im Wartezimmer beginnt sie plötzlich zu singen, unflätige Verse hämmern in seinem Kopf. Der Psychiater ruft ihn in die Ordination. Er ist unfähig, sich zu artikulieren. Er ist einfach nicht imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Stimme will ihn nicht zu Wort kommen lassen. Der erfahrene Psychiater erkennt sein Dilemma und gibt ihm einen Beruhigungssaft zu trinken. Allmählich entfernt sich die Stimme und er kann Rede und Antwort stehen. Der Arzt verschreibt ihm ein hervorragendes Mittel gegen seine innere Stimme und er verlässt die Praxis in gehobener Stimmung.
Er schläft gut und traumlos und das Medikament scheint vielversprechend zu sein. In drei Tagen hat er seinen nächsten Termin und die Stimme schweigt bis er die Ordination betritt: „Töte ihn! Töte ihn!“
Er nimmt den Brieföffner vom Schreibtisch und sticht mehrere Male auf den Arzt ein…..
© Gabriele Leeb 2025-07-16