Die Stimme in mir#7- Krankhaftes Tagträumen

Leah Kerzbeck

von Leah Kerzbeck

Story

Schon als Kind habe ich viel geträumt. Von netten Drachen und Wölfen, mit denen ich mich anfreundete, von fernen Abenteuern, die ich mit meinen Freunden nachspielte oder in Form von Bilder malte oder Bücher schrieb, von Burgen und Schlössern und fremde Welten. Ich wurde älter, doch wie die meisten Schreiber und Leser, hörte ich niemals auf zu träumen. Doch meine Träume änderten sich.

Als Teenager träumte ich von Freiheit, von Mut und Liebe und Hoffnung, einen Ausweg aus der Frustration zu finden, die ich in allem fand, was ich erschuf und das erdrückende Gefühl, in meiner Lebenssituation gefangen zu sein. Manchmal wünschte ich mir, wieder ein Kind zu sein. Denn was ich früher verdrängen konnte, gelang mir nun nicht mehr: Mir war die reale Welt bewusst. Ich konnte nicht den ganzen Tag Bücher schreiben wie ich wollte, denn ich musste zur Schule gehen. Ich konnte keinen Drachen reiten, denn sie existieren nicht und auch werde ich niemals wirklich in eine meiner Traumwelten flüchten können. Doch genauso wenig würde ich diese Welten, die ich erschaffen habe, teilen können, denn ich bin nicht gut genug und es ist noch nicht vollendet aber wie soll ich mein Werk vollenden, wenn ich so viele andere, sinnlose Dinge lernen und tun muss? Es war ein schreckliches Gefühl von gefangen-sein. Also schaute ich Filme, las Bücher und träumte weiter.

Das Problem wurde nur, dass ich nicht mehr aufwachte. Krankhaftes Tag-träumen. Manch einer hat es vielleicht schon mal gehört. Eine Flucht aus dem Alltag und ein Abwehrmechanismus. Ich wünsche niemanden das Gefühl, sich in seine Traumwelt flüchten zu müssen, weil die reale Welt zu überwältigend wird. Egal wohin ich ging, mein Traum war immer bei mir und es brauchte nicht viel, bis meine Gedanken immer wieder davon glitten, so sehr ich mich auch bemühte. An Wochenenden schlief ich bis zu zwölf Stunden und war danach immer noch müde. Ich erinnere mich an die Stimme in mir, die nach Jahren dieser Art zu Leben zu schreien begann: „Wach auf! Wach auf, verdammt!” Es wurde zu einer Sucht. Ich konnte meine Traumwelt nicht mehr verlassen.

Nun stellt sich die Frage, wie habe ich es geschafft letztendlich aufzuwachen? Nun, ich begann auf die Stimme in mir zu hören, die so dringend nach Ruhe in meinen Kopf bettelte. Also begann ich meine Träume loszulassen. Ich lernte, mich und mein Leben zu lieben und zu verstehen, dass meine Träume nur wahr werden können, wenn ich in der echten Welt lebe und nicht als ein gedankenverlorener Geist umherschleiche. Ich brauche keine Träume, um glücklich zu sein, sondern meine Träume brauchten mich glücklich, damit sie wachsen können. Also ließ ich sie los und empfing die Stille in meinem Inneren, ohne mich vor ihr zu fürchten.

Heute träume ich immer noch und manchmal verfalle ich in alte Gewohnheiten. Doch halte ich mir stets vor Augen, was Tolkien damals als Gandalf zu Bilbo gesagt hat: „Das Leben ist nicht in meinen Büchern und Karten, sondern sie ist da draußen.”

© Leah Kerzbeck 2022-08-30

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