Die Stube – 14

Anja Kappel

von Anja Kappel

Story

Blut tropft aus der Nase der Frau. Der Sohn will dieser zur Hilfe eilen, doch die Tochter hält ihn zurück. Die Frau wischt sich das Blut vom Gesicht. Sieht die Tochter an. Sie solle sich nicht wie ein Moralapostel aufspielen, faucht die Frau die Tochter an. Schließlich ist sie um nichts besser, liebt sie doch ihren eigenen Bruder. Die Frau habe sie einmal gehört, als sie am Abend zur Toilette ging. Gestöhnt habe sie, gar nicht mitbekommen habe die Schwester, dass die Frau die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet hat. Liegend im Bett hat sie sich ihrer Lust aufgebäumt – ein Bild ihres Bruders in der einen Hand haltend. Die Tochter streitet alles ab. Sie liebt ihren Bruder, wie man einen Bruder eben liebt. Woher die Tochter so genau wusste, dass unter der Matratze ihre Unterwäsche zu finden sei, will die Frau wissen. Sie habe sie selbst versteckt, schreit die Tochter. Plötzlich versagt ihr abrupt die Stimme. Wie dumm sie doch nur ist, ärgert sich die Tochter selbst. Sie hat sich eigenständig verraten. Alle sehen die Tochter an. Der Sohn kommt auf sie zu und spuckt ihr ins Gesicht. Ekelerregend sei sie, schleudert er ihr entgegen. Er hasse sie! Die Frau ist seine große Liebe! Er solle nun endlich sein verdammtes Maul halten, er wisse ja nicht, mit wem es die Frau sonst noch so treibt, schrillt die Mutter. Was sie damit meine, will der Sohn wissen. Am Nachmittag also mit dem Sohn und am Abend mit dem Vater meint die Mutter trocken. Als dies der Sohn hört, blickt er entsetzt zur Frau. Kann das Gehörte nicht glauben. Die Frau mit dem Vater? Diesem alten, ekeligen Schwein. Das kann nicht sein! Die Frau solle dem Sohn sagen, dass dies nicht stimme; dass sich die Mutter das nur ausgedacht habe, um ihre junge Liebe zu zerstören. Die Frau sieht den Sohn lange an. Schweigend. Durchdringend. Dann meint sie, nein, die Mutter sage die Wahrheit. Auch der Vater schliefe mit ihr. Vergewaltige sie. Der Sohn ist am Boden zerstört. Das Bündnis, das beide vor kurzem eingegangen sind, ist zerstört – von einer Sekunde zur nächsten. Wie weggefegt. Die Frau solle ihre Zunge hüten und den Vorwurf der Vergewaltigung sofort zurücknehmen, schreit die Tochter. Das würde sie nicht tun, denn es sei die Wahrheit, keift die Frau.

Für die Mutter ist dies plötzlich alles zu viel. Sie eilt zum Herrgottswinkel, macht das Kreuzzeichen und kniet sich vor dem Kreuze nieder, das Holzscheit tief in ihre Knie gepresst. Sie bittet den Herrgott um Vergebung für ihre unkeuschen Kinder. Für all die Sünden. Geistesabwesend greift sie zur Flasche in ihrem Schränkchen. Nimmt einen großen Schluck. Die Zeit scheint still zu stehen. Die Stube ist nicht mehr dieselbe. Die Geheimnisse liegen am Tisch und können als solche nicht mehr deklariert werden. Alle Beteiligten wissen nun alles von jedem. Die Stube ein Ort, den jeder in seinem Haus hat. In dieser Stube hier wird Gericht gehalten! Der Vater, die Mutter, der Sohn, die Tochter, die Frau – sie alle sind angeklagt. Wie lautet das Urteil?

© Anja Kappel 2022-08-14

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