Die Suppe und das Nilpferd

Gertraude Vymetal

von Gertraude Vymetal

Story

Oder: Wie das Nilpferd zu seinen dicken Beinen kam.

Ich weiß schon, was man hier schreibt, muss erlebt sein. Aber wo ist die Grenze zwischen einer Wirklichkeit, die jedermann zugänglich ist, und Erlebtem, das sich im Gehirn von jemandem abspielt?

Ein ältere Dame, Gertraude, lebt seit geraumer Zeit in einem Hospiz, da sie schwer krank ist. Sie ist auf umfangreiche Pflege und Medikamente angewiesen. Beides wird ihr hier in reichem Maße zuteil. Besonders großzügig ist man in der Palliativmedizin mit Morphinen. Und wenn das Pflaster, das den Wirkstoff kontinuierlich abgibt, nicht ausreichend gegen Schmerzen, Atemnot und Brechreiz wirkt, dann gibt es zusätzlich Morphinsaft oder eine Spritze. Gertraude soll ja schließlich nicht im Übermaß leiden. Wie jedes Medikament haben auch Morphine nicht nur erwünschte, sondern auch unerwünschte Wirkungen. Eine davon ist: man sieht Dinge oder besser gesagt, Tiere, heimliche und unheimliche. Wenn Gertraude nicht schon aus den Erfahrungen aus der Verwandtschaft gewusst hätte, dass so etwas auftreten kann, hätte sie sich vor dem dunklen Gewürm, das sich um sie herumschlängelte, und den katzenartigen Gesichtern, die so gar nichts Schmeicheliges und Schnurriges an sich hatten, noch mehr gefürchtet. Sehr viel angenehmer waren da schon die vielen gelben Schmetterlinge, die den ganzen Raum ausfüllten und außer Gelb keine andere Farbe zuließen.

Aber eine richtige Art Freundschaft entstand zwischen dem Nilpferd und der alten kranken Dame. Das Nilpferd spazierte auf seinen dünnen krummen Beinen am Fenster vorbei und schaute immer so lieb herauf, wie wenn es etwas sagen wollte. Die alte Dame bekam Mitleid mit dem Tierchen, weil es gar so wackelig auf den Beinen war. Und eines Tages hatte sie eine Idee. Die Suppe, die zu Mittag kredenzt wurde, bestand aus Wasser mit viel Salz und Grießknödeln, denen es ebenfalls an Salz nicht mangelte. Kurzerhand kippte Gertraude mit zitternder Hand die Suppe vor das Maul des Nilpferds. Das machte sich gleich darüber her. Am nächsten Tag gab es wieder heißes Salzwasser, nur diesmal mit Knödelchen, die etwas Grünzeug enthielten. Salzig genug um das Nilpferd zu laben, das pünktlich zur Stelle war. Die Freundschaft zwischen Gertraude und dem immer noch wackeligen Nilpferdchen vertiefte sich und verdrängte sogar zum Teil das Gewürm und andere Krabbeltiere, und was sonst noch wie ein Film vor Gertraudes Augen ablief, wenn sie so im Halbdämmerschlaf im Bett lag.

Das nächste Mahl war eine Nudelsuppe, dann gebundene Suppe, aber alles herrlich versalzen. Gertraude konnte zusehen, wie die einst dünnen Beinchen des Nilpferdes an Form und Kraft zunahmen.

Und so war schließlich beiden geholfen: das Nilpferd wurde kräftig und konnte zur Freude der alten Dame auf seinen nun dicken kurzen Beinen herumspringen, und Gertraude konnte die Suppe fortan nutzbringend verwenden.

© Gertraude Vymetal 2020-04-28

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