Die Tochter meiner Schwester

Martin Achrainer

von Martin Achrainer

Story

Ich schließe die Augen. Denke zurück an das Erlebte, die Jahre und diese Erfahrungen. Dennoch sehe ich hinter meinen Lidern nur Dunkelheit. Ich würde gerne Schmerz empfinden, doch ich fühle nichts. In meiner Brust bildet sich eine Enge. Mein Mund wird trocken. Meine Gefühlswelt bleibt dennoch leer.

Die Tochter meiner Schwester kam 8 Jahre nach mir zur Welt. Ein kleines zierliches Geschöpf, mit großen braunen Augen und üppigen roten Wagen. Hätte man nicht gewusst, dass dieses Kind krank war, es wäre nicht zu erkennen gewesen.

Mukoviszidose oder Cystische Fibrose ist in der Gegend, aus welcher ich stamme, weit verbreitet. Allerdings gab es früher keinen Namen dafür. Die Kinder starben einfach, waren nicht lebenstauglich. Mitte der Achtziger-Jahre, wusste man zumindest um den Feind, mit welchem man es zu tun hatte.

Silvia war das erste Kind meiner ältesten Schwester. Ein Wunschkind. Kurze Zeit nach der Geburt kam die Diagnose. Es folgten Jahre, langwieriger Klinikaufenthalte. Ein Hoffnungsschimmer reihte sich an den nächsten und wurde doch stets zunichtegemacht. Mein kindliches Bewusstsein war wie betäubt. Immer wieder gab es Zeitfenster, in welchen die Therapien Linderung schafften. In diesen Phasen war das Mädchen eine Spielgefährtin. Plötzlich war sie wieder entrissen und alle um mich waren mit ihrer Angst und ihrem eigenen Schmerz beschäftigt. Mein damaliges neunjähriges ICH betrachtete das Geschehen um sich, durch eine gläserne Trennwand. Versuche des Verstehens und doch keine Möglichkeit des Realisierens.

Zu Hause hörte ich Geschichten über die Klinikaufenthalte. Kurz vor dem Sterben ihrer Tochter wurde meiner Schwester erklärt, sie mache zu viel Aufhebens um das Kind. Das Mädchen würde ohnehin nicht mehr lange leben. Ich saß am täglichen Nachmittags-Kaffeetisch und hörte zu, konnte es aber nicht glauben.

Mein zwölfjähriges ICH steht am offenen Grab, umgeben von meiner großen Familie. Die Totenmesse ist gerade vorbei und nun muss man die Beileidsbekundungen des gesamten Dorfes über sich ergehen lassen. Unzählige Menschen, deren Gesichter ich kenne, die mir dennoch unbekannt sind, schütteln mir die Hand oder tätscheln mein Gesicht. Duftende Rosenbouquets türmen sich übereinander. Es ist heiß.

Meiner einziger Gedanke gilt einer weißen Rose, welche ich trocknen möchte.

Aufbewahren. Konservieren.

© Martin Achrainer 2021-04-11