von Luise Hein
Er steht vor dem Fenster und beobachtet den alten Arndt. Der liegt auf einem Krankenbett an vielen Geräten angeschlossen. Ein Einzelzimmer. Seine Frau sitzt neben ihm und hält sich ein Taschentuch vor ihr Gesicht. An der gegenüberliegenden Wand stehen unzählige Gemälde. Darauf sind Menschengestalten mit großen Flügeln zu erkennen. Arndts Frau, Esther, war nicht nur Künstlerin, sie war auch katholisch.
Seine Freunde hatten sich im Laufe der letzten Jahre darüber lustig gemacht, wie sehr ihr Alltag von Gott und Engeln geprägt war. Seitdem ihr erster Ehemann gestorben war, fand Esther Trost in der Bibel, zitierte bei jeder Lebenslage daraus. “Ich will, dass wir uns im Himmel wieder treffen!” flüsterte sie jede Nacht an seinen Ohren, wenn er nach langen Tagen aus dem Immobilienbüro nach Hause kam. Mehr aus Liebe als aus wahrem Glauben ließ er sich schließlich taufen und heiratete Esther.
Bald darauf wüteten unzählige Gebrechen durch seinen Körper und die warme Geborgenheit der göttlichen Umarmungen war ihm nie ferner gewesen. Arndt musste seine Geschäfte an den Partner übergeben. Sein Leben lief zwischen Wartezimmer und Blutuntersuchungen hin und her. Er wurde immer wieder ins Krankenhaus eingeliefert, wenn es nachts besonders schlimm war. Irgendwann ließen sie ihn nicht mehr raus.
Esther kam jeden Tag zum Krankenbett von Arndt, streichelte sein immer fahler werdendes Gesicht. Ihr Glaube trug sie. Das Krankenhauspersonal war so beeindruckt von dieser Stärke und erlaubte ihr, Arndts Zimmer mit ihren Ikonenbildern zu überladen. Arndt war die meiste Zeit in einem Nebelzustand. Er hatte die Kunst registriert, aber blickte meist hindurch.
Heute war ein warmer Tag, die Tür stand weit offen, das Fenster war gekippt. Ein leichter Zug wehte durchs Zimmer. Die Ärzte sprachen behutsam mit Esther. Es war soweit, sie sollte gewappnet sein.
Der Glanz in ihren Augen strahlt voller Zuversicht. Sie sitzt neben Arndt und streichelt seine Hand. Er kann nur schwer die Augen offen halten. Eine Krankenschwester kommt ins Zimmer und überprüft die Geräte, fragt Esther, ob Arndt starke Schmerzen hat. Sie verneint mit einem dankbaren Lächeln.
Als die Frau im Kittel das Zimmer verlässt, spürt Esther, wie sich Arndt mit letzter Kraft aufbäumt und die Augen öffnet. Er hebt die linke Hand vom Bett und zeigt auf die Gemälde. “Da sind Engel.” „Ja, ich weiß, mein Liebling.” Doch Arndt verharrt und schaut Esther erschüttert an. “Ganz viele Engel.” Esther steht auf und fasst beruhigend an seine Schulter, aber Arndt schüttelt den Kopf. Sein Arm gleitet höher zur Wand. “Engel, über den Gemälden! Sie sagen, einer fehlt.”
Arndt würde heute sterben, das weiß der Beobachter vorm Fenster. Er ist der letzte Engel, der fehlt. Er will nicht hineingehen. Er denkt an seine Ehe mit Esther, bevor er zum Todesengel wurde. Er schüttelt den Kopf. Ein Trost bleibt ihm. Sie würde nicht in den Himmel kommen. Also atmet er tief ein und marschiert los.
© Luise Hein 2022-08-21