von Wolfgang Haidin
Am Ende der ZiB 1 wurde gestern ein Beitrag vom ehemaligen KZ Mauthausen gezeigt. Zu sehen auch die sog. „Todesstiege“, die eigentlich keine Stiege war, sondern lose aufeinander getürmte Felsbrocken, über die die Häftlinge am Abend zurück ins Lage klettern mussten. Mit Holzschuhen. Mit einem 20-kg-Stein auf einer Holztrage. Zum Gaudium des SS-Wachpersonals.
Blitzartig schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Eine Erinnerung, die sich bei einer Exkursion im März 1998 mit meinen Schüler*innen unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt hat.
Ein grauer, nasskalter Novembertag wäre passender. Die Schüler*innen müssen möglichst viel über den menschenverachtenden Nationalsozialismus gelernt haben. Im KZ die nackte Präsentation des Grauens. Unvorstellbar eigentlich, was Menschen Mitmenschen antun können. Gefühllos, brutal, mitleidlos.
Die Schüler*innen dürfen diese Exkursion nicht als Schulausflug erleben! Während auf diesem Gelände Jahrzehnte zuvor Menschen unglaubliches Leid ertragen haben müssen. Erschlagen, erhängt, vergast, verhungert, von Hunden zerfleischt. Auf jedem m², auf denen sie gehen und stehen. Hunderttausendfach. Mehr als hunderttausend Todesopfer sind eine unvorstellbar große Zahl, die man kaum begreifbar machen kann. Ich habe es zu veranschaulichen versucht. Mehr als 40 Tote jeden Tag. Fast 7 Jahre lang!
Die Exkursion verläuft mit einem sehr kompetenten Guide passend. Alle Fragen werden beantwortet. Gaskammer, Duschräume, Verbrennungsöfen, Appellplatz, „Mühlviertler Hasenjagd“,…
Als Abschluss steht die „Todestiege“. Dabei weist der Guide noch auf die von der SS zynisch bezeichnete „Fallschirmspringerwand“ hin. Als wir die Todesstiege, die mit der damaligen nicht mehr vergleichbar ist, hinuntergehen, entdecke ich unten junge Leute, die sich um einen älteren Mann geschart haben, ihn befragen, filmen. Ein spanisches TV-Team! Mir wird sofort klar, was diese Szene bedeutet. Der etwa 80-Jährige MUSS eine ehemaliger Häftling sein!
Als ich mich nähere, wird gerade die Kamera verpackt, Mikrophone und Beleuchtung verstaut. Ich gehe auf den Mann zu, stelle mich vor. Er ist tatsächlich Spanier, kann sogar ein wenig Deutsch (im KZ hat er die Muttersprache der Folterknechte gelernt) und erzählt in Englisch weiter, wenn seine Sprachkenntnisse nicht reichen. Er stellt sich als Jose Maria Aguirre aus Son Roca nahe Palma de Mallorca vor, der jahrelang als Gegner Francos im KZ inhaftiert ist und am 5. Mai 1945 befreit wird. Er schreibt mir seinen Namen und seine Adresse auf, lädt mich ein, ich solle ihn in seinem Hotel besuchen, wenn ich nach Mallorca komme. Ich bin zutiefst bewegt!
Als sich meine Schüler*innen mit den begleitenden Kolleg*innen zum Gehen wenden, die steile Todesstiege erklimmen, ich mich von ihm nicht trennen kann, deutet er mit Tränen in den Augen auf meine Gruppe und spricht Worte, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde: „Sie müssen keine Steine tragen!“
© Wolfgang Haidin 2020-05-05