Verloren irrt das Mädchen durch die Straßen und Gassen der Stadt. Tote Augen starren sie an – Fenster zerbrochen, eingeschlagen, ausgebrannt. Wie Tränenströme bröckeln die Fassaden. Es ist so still – kein Straßenlärm, kein Kinderlachen, ja sogar die Tauben haben ihr Girren eingestellt und der Wind sein Säuseln. – Totenstille! Nur aus der Ferne ertönt Donnergrollen – nein, es sind Schüsse, Bomben, Explosionen …
Die Fenster der hohen Stadthäuser, die ihr immer ein Gefühl von Wohlhabenheit, Bürgertum und Geborgenheit vermittelt haben, sind tot – ohne Leben, ohne Licht, ohne Liebe. Die leuchtenden Augen sind erloschen.
Sie hat nie in einer solchen Wohnung mit den hohen Räumen, den vielen länglichen Fenstern und den Hängelampen gewohnt. Sie kannte sie nur von außen. Aber wenn sie von der Straße zu ihnen aufschaute, sah sie kleine Mädchen in Samtkleidern Puppen spielen und Buben mit gescheitelten Haaren auf Steckenpferden durch die Wohnung jagen, während die Mutter Freundinnen Kaffee servierte und der Vater abends aus dem Büro kam, das Mädchen auf seinen Knien schaukelte und dem Buben anerkennend über den Kopf strich. Fantasien aus ihren Lieblingsbüchern Heidi, Gritli, die Verney-Mädels, das Doppelte Lottchen, Erich und die Detektive und natürlich ‘Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen’, die ihre Nase an solchen Fenstern platt drückte.
Das waren ihre Bilder, wenn sie in der Dämmerung durch die Straßen gegangen war und in den Fenstern langsam die Lichter der Kristallluster angingen. Einmal würde auch sie in einer solchen Wohnung leben. Jetzt wohnte ihre Familie am Stadtrand in einem kleinen gemütlichen Häuschen und sie wußte, dass sie von vielen darum beneidet wurde.
Heute war es egal, wo man wohnte. Sie mussten alle weg, flüchten! Sicherheit und Geborgenheit gab es nirgends mehr.
Aber später, irgendwann, irgendwo, würde sie wieder durch die Straßen der Städte streifen, zu den erleuchteten Fenstern hinaufschauen und ihren Träumen und Fantasien freien Lauf lassen.
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Ich lebe in einem Haus auf dem Land und liebe es, durch bekannte oder noch besser, fremde Städte zu streifen, zu den erleuchteten Fenstern emporzuschauen und mir vorzustellen, was sich dahinter abspielt. In manchen solchen Stadtwohnungen war ich inzwischen: sehr beeindruckend natürlich die Praxisräume von Siegmund Freud in der Berggasse in Wien. Einige Arztordinationen finden in solchen Häusern statt und auch Vorlesungen und Seminare habe ich in altehrwürdigen Gebäuden besuchen dürfen. Sie haben ein besonderes Flair – eine Geschichte, die, obwohl unbekannt, spürbar ist.
Wie kann mutwillig zerstört werden, was über die Jahrzehnte, oft Jahrhunderte erbaut wurde und Lebensraum und Geborgenheit für Menschen war, die jetzt ihr Heim und vielfach auch ihr Leben verlieren?
© Christine Sollerer-Schnaiter 2022-05-05