von Christine S
Immer, wenn ich meine Beine trainiere, werde ich traurig. Erst ist es hart und unfassbar anstrengend. Als würden Felsen daran haften, die mich nach unten ziehen. Manchmal weine ich.
Da stehe ich im Krieger, der weite Ausfallschritt, die Arme gehoben. Stehe und atme. Drehe und routiere. Meine Beine zittern, Angst vor der Kraftlosigkeit.
Dann kommt sie, die Traurigkeit. Steigt auf. Aus den Beinen. Überrollt mich. Als würde sie durch die Anstrengung aus den tiefen Muskelfasern gepresst. Als hätte sie sich dort eingenistet. Geschlummert. Wie lange. Jahre, vielleicht Jahrzehnte, vielleicht Generationen.
Meine Mutter machte, seit ich sie kannte, viel Sport. Nach vielen Jahren Turnen entdeckte sie das Rennen. Mehrmals in der Woche und lange Strecken. Halbmarathon, Marathon, Triathlon. Sie rannte, radelte und schwamm. Immerfort. Immer fort.
Jetzt, da ich sie entdeckt habe, die Traurigkeit in meinen Beinen, in den Oberschenkeln, um genau zu sein, beginne ich, zu verstehen. Sie dachte, wenn sie nur genug rennen würde, würde sie irgendwann verschwinden. Wenn sie nur weit genug, lang genug, ausdauernd genug rennen würde, käme die Traurigkeit irgendwann nicht mehr mit.
Ich würde sagen, sie hat sie unterschätzt. Die Traurigkeit. Ich kenne mich aus mit Traurigkeit. Ich weine, seit ich denken kann. Vielleicht war es sogar die Traurigkeit, die mir half, zu überleben. Diese Schönheit im Schmerz. Die süße Sehnsucht nach Erlösung. Und die Liebe zum Schönen. Es ist eine Theorie. Eine wage vielleicht. Ein Versuch zu verstehen. Ein Versuch der Erklärung.
Ein Versuch der Erklärung, warum Traurigkeit aus meinen Beinen aufsteigt. Aus meinen Oberschenkeln, um genau zu sein. Ein Versuch der Kombination meiner Erfahrungen.
Die Traurigkeit meiner Mutter, die ich, noch eng verwoben mit ihrem Pulsschlag, schon früh im Bewusstsein trug. Die vielleicht schon in den Bauchnabel hinein, im Entstehen meiner Selbst, ihren Weg in mich fand. Vielleicht gerade, als meine Oberschenkel sich aus der Gliedmaßenknospe formten.
Und mein Wunsch, wenn ich meine Mutter in meinem Kindsein am Fenster stehen sah, im dunklen Zimmer, am späten Abend, noch nicht spät genug zum Schlafengehen, sie mit dem linken Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt, um den Kopf abzulegen in der linken Hand und mit der rechten Hand die Teetasse haltend, in der vielleicht auch Alkohol war, denn sie hatte ein Thema damit, so wie ihre Eltern und mein Vater und dessen Eltern, mein Wunsch, ihre diese Traurigkeit zu nehmen, damit sie wieder glücklich sei.
Die tiefe Überzeugung, diese Last für sie tragen zu können. Stark genug dafür zu sein. Und es geschah. Vielleicht entschied das Universum, dass es besser sei, wenn ich mich dieser Aufgabe annähme.
© Christine S 2021-09-16