Die unerträgliche Sehnsucht

Tijana Dinic

von Tijana Dinic

Story

Das Gespräch dauerte bis in die Früh. Sie hatten nicht einmal bemerkt, dass sich der Morgen näherte, bereit, die Nacht für Stunden verschwinden zu lassen. In ihren Augen machte sich die Müdigkeit sichtbar. Sie hatte nicht nur ihren Mann, Lukas, aus ihrem Bewusstsein verdrängt, sondern auch jegliche Gedanken an Schlaf. Schon bei ihrem ersten Telefonat mit Bobo hatte sie die Kontrolle über sich selbst verloren. Da ihre Mutter Pharmazeutin war, wusste sie, dass Schlafmangel mit der Zeit schlimme Folgen haben könnte. Das galt es zu vermeiden. Dennoch war ihr klar, dass sie in dieser Nacht kein Auge zudrücken würde. Das Telefongespräch hatte sie viel zu sehr aufgewühlt. Bobo und Tatjana hatten vieles gemeinsam, das machte ihn für sie noch attraktiver. Im Gegensatz zu ihr sprach er viel. Obwohl sie von Kindesbeinen an eine Schwäche dafür hatte, über sich zu sprechen, hörte sie Bobo gerne zu. Sie wollte so viel wie möglich über ihn erfahren. Seine Stimme durchbohrte ihr Herz auf das Süßeste – dagegen wollte sie sich nicht wehren.

Mit jedem weiteren Wort, das aus seinem Mund kam, bohrte sich Bobos Stimme tiefer in ihr Herz. Sie konnte nicht genug bekommen. Wurde sie etwa abhängig von seiner Stimme? Diesen Abend wollte sie aber nicht an die möglichen Folgen denken, sondern ihm lieber beim Reden zuhören. Bobo erzählte ihr, dass er als Abteilungsleiter in einem Schuhgeschäft tätig war. Die Verantwortung, die er tragen musste, war zwar groß, aber die Arbeit gefiel ihm sehr. Dass er Abteilungsleiter war, fand sie sehr reizvoll, denn wer würde nicht einen so gutaussehenden Mann als Chef haben wollen? Dabei konnte sie es nicht lassen, ihren erotischen Fantasien freien Lauf zu geben. Hätte sie mit ihm arbeiten müssen, so wäre das sehr gefährlich gewesen. Ob sie dann überhaupt zum “richtigen Arbeiten“ gekommen wäre? In dieser Nacht erfuhr sie einiges über ihn. Bobo sagte, er wäre Single und würde alleine wohnen. Er erzählte ihr von einer festen Beziehung, die ein paar Jahre gedauert hatte, aber vor kurzem zu Ende gegangen war. Darüber wollte Tatjana keine Details erfahren, denn das war ohnehin die Vergangenheit. Für sie zählte nur die Gegenwart und die Zukunft – mit ihrem Bobo. Um so schrecklicher war die Tatsache, dass sie vergeben war und er alleine. Warum hatte sie diesen Mann, der so vieles mit ihr gemeinsam hatte, so spät kennenlernen müssen? Das war jedoch nicht das einzige Hindernis, das sich zwischen Tatjana und Bobo stellte. Er wohnte so weit weg, dass sie ihn nie sehen konnte, wenn ihr danach war. Er lebte in Würzburg und sie in Wien. Zwar war Deutschland nicht am anderen Ende der Welt, aber es waren zirka 600 Kilometer, die sie trennten. Diese schreckliche Tatsache ließ ihr Herz jedes Mal zusammenzucken. Wieso spielte das Schicksal ein mieses Spielchen mit ihnen? Weshalb trat er so spät in ihr Leben ein? In den darauffolgenden Tagen lernten sie sich immer besser kennen und die Sehnsucht wurde unerträglicher.

© Tijana Dinic 2021-04-25

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