von Stefan Reitbauer
Ein Schild am Rande der Straße weist geradewegs in den Wald hinein. Staatsgrenze. Die Temperaturanzeige meines Autos hat sich bei minus 19 Grad Celsius eingependelt. Es wäre also vorteilhaft, hier im tief verschneiten Niemandsland weit nach Mitternacht keine Panne zu haben. Seit geraumer Zeit manövriere ich das weit und breit einzige Scheinwerferpaar behutsam über die rutschige, kurvenreiche Straße.
Nach längerer Pause besuchte ich an diesem Abend wieder einmal eines dieser mir so liebgewordenen Konzerte. Voll von Liedern, die so viel Lust, Leidenschaft und Mitternacht in sich tragen, dass man dies- und jenseits der Bühne verlässlich die Welt um sich vergisst. Mir sind jene Stunden ein ums andere Mal so bedeutsam, dass in den Nachklängen eine unverhohlene Sehnsucht nach den Texten und Liedern, die nicht am Programm standen, mitschwingt.
Ich ärgere mich über meine nimmersatte Geisteshaltung und verweile bei dem tröstenden Gedanken, dass es sie ja dennoch gibt. Beim nächsten Mal vielleicht. Und auf den CDs, auf meinem Klavier, in meinem Kopf. Und doch …
Es beginnt zu schneien. Wie viele ungeschriebene, nie gesungene Lieder mag es da draußen geben? Jede Schneeflocke eines? Das wird hinkommen, denke ich. Und wessen Lieder sind es, die da nächtens übers Land ziehen? Vielleicht die nie zu Notenpapier gebrachten Melodien des früh verstorbenen Schubert. Die Balladen des gealterten John Lennon. Da drüben – Mahlers zehnte Symphonie?
Sind auch unser beider ungeschriebenen Lieder darunter? Wie immer, wenn es schneit, muss ich an sie denken. Unausweichlich. So oft habe ich versucht, die Klänge, die in unserem gemeinsamen Resonanzraum entstehen konnten, zu Papier zu bringen. Es blieben jeweils Skizzen, die früher oder später im Papierkorb landeten. Unfassbar. Wie ein längst geträumter Traum, der im Morgendunst unwiederbringlich verblasst.
Ich mag das Bild dieses klingenden Raums zwischen zwei Liebenden. Freuden, Ängste, Sehnsüchte, Worte und Musik, die sich in einander angleichenden Frequenzen begegnen. Miteinander tanzen. Sich voneinander abstoßen und wiederfinden. Ein Perpetuum mobile, möchte man meinen. Es ist zu warm im Auto. Das ist die Sehnsucht.
Der Schneefall wird immer dichter. Heftiger Wind kommt auf. Mit einem Mal ist alles weiß. Gleißende Reflexionen verkehren die Himmelsrichtungen. Ein Höllenlärm umgibt mein Auto. Dringt durch die Lüftungsschlitze ins Innere. Ein irres Quodlibet tausender Melodien. Schmerzhaft verstimmte Mixturen einer monströsen, sehr katholischen Orgel. Ich springe auf die Bremse und komme irgendwann zum Stehen. Steige aus dem Auto und versuche ruhig zu atmen. Fünf Atemzüge. Zehn. Zwanzig. Die quälend kalten Schneeflocken in meiner Lunge treiben mich rasch wieder ins Warme.
Mein Herzschlag beruhigt sich. Ich lege zur Vorsicht eine CD ein. Man muss auf der Hut sein, denke ich mir. Die ungeschriebenen Lieder, sie sind immer in der Mehrzahl.
© Stefan Reitbauer 2020-09-15