Die vergessene Siedlung im Wald

Anatolie

von Anatolie

Story

Am Grazer Nord-West Rand erhebt sich ein Kogel namens Plabutsch. Zum Leidwesen der Anrainer verschwindet hier die Sonne schon sehr frĂŒh hinter seinem Gipfel. Es ist Oktober, und ich halte, entlang der Göstinger Straße, Ausschau nach versteckten Pfaden in Richtung Steinbruch. Geheime PlĂ€tze zu erkunden gehört zu meinen Leidenschaften. Bei der kleinen Kapelle am Karolinenweg fĂŒhrt eine Gasse steil nach oben. Kurze Zeit spĂ€ter befinde ich mich im Wald, vor einem Schild mit der Aufschrift „Zutritt Verboten“. Doch der Maschendrahtzaun ist nicht mehr intakt, man kommt problemlos hinein.

In sanfte Herbstmelancholie versunken spaziere ich ĂŒber raschelndes Laub einen Forstweg entlang. Ein jĂ€her Windstoß fĂ€hrt durch die Baumkronen und lĂ€sst goldene BlĂ€tter vom Himmel tanzen.

Der Pfad mĂŒndet in einer Art Lichtung, ganz in der NĂ€he des Steinbruchs. Als ich gerade umkehren will, entdecke ich eine bogenförmige Öffnung in der Felswand. Ich sehe die Pfeiler einer offenen Halle, und unweit der Stelle verstecken sich zwei heruntergekommene HĂ€uschen zwischen jungen BĂ€umen und wucherndem GestrĂŒpp. Von Neugierde gepackt kĂ€mpfe ich mich durch die Stauden und hole meine Kamera hervor. Ich frage mich, was hier einmal hergestellt oder gelagert worden war. Die Überbleibsel der Ruine geben mir keine Auskunft. Und jenes merkwĂŒrdige Loch im Berg, dessen hölzernes Tor halb offen steht, wage ich nicht zu betreten.

Ich stehe vor einem der HĂ€user. Sein Dach ist zur HĂ€lfte eingebrochen. Der muffige Geruch alten Bauwerks macht sich schon von außen bemerkbar. Vorsichtig besteige ich die knarrende Holztreppe, ein jeder Schritt gut bedacht, damit unter meiner Last nichts zusammenstĂŒrzt. Die Sonne linst durch verbliebene Balken und mir bietet sich ein mystisch-schauriges Monument der VergĂ€nglichkeit dar. Ein alter Kohleherd steht noch da, neben TrĂŒmmern von Bett und Schrank. Dickicht und Schlingpflanzen erobern sich ihr Reich zurĂŒck, umklammern das GemĂ€uer und ranken in die Stube hinein.

Die zweite Behausung ist komplett verwĂŒstet worden. In jeder Ecke tĂŒrmen sich Unrat und alte Bierdosen. Die WĂ€nde sind beschmiert, die Toilettenmuschel ist zertrĂŒmmert. Nur der Kellerraum wirkt unberĂŒhrt. Eine dicke Staubschicht ĂŒberzieht ein ganzes Regiment aus Flaschen, Eimern, altem Kochgeschirr. Ein Ofen weist darauf hin, dass hier einmal Schnaps gebrannt wurde.

Ich knipse an die hundert Fotos. Jede Einzelheit, jede Perspektive, möchte ich auf Bildern festhalten.

Es ist Zeit zu gehen. Ich finde einen Ausgang zur Seitenstraße hin und wĂ€re fast ĂŒber die am Boden liegenden Reste eines kaputten Zaunes gestĂŒrzt. In dem Moment sehe ich zwei Polizeiautos in den Nachbarhof vorfahren. Jetzt aber rasch weg! So unauffĂ€llig wie möglich schleiche ich mich an den Polizisten vorbei, die geradewegs zum Nachbarhaus hochmarschieren. Puh, das war knapp!

Vier Monate spÀter ist das Dickicht gerodet und die Siedlung liegt nackt in ihren Grundmauern begraben.

© Anatolie 2021-03-22

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