Tom wünschte sich, es wäre die erste Freitagnacht, in der er von einem schwermütigen Klopfen an der Tür geweckt wurde. Doch weder war sie es, noch würde es die letzte sein. Tock, tock, tock. Schon bevor er die Tür öffnete hörte er an dem Klang, wie ihr schlanker, magerer Knochen auf das Eichenholz schlug, dass es seine Schwester war. Er drehte den Knauf. Angel. Kein Name war dem Anblick widersprüchlicher, den sie ihm bot. „Bitte, sag jetzt nichts“, flüsterte sie rau. An der blutverkrusteten Nase klebten noch Reste von feinem weißem Pulver. Die animalischen blonden Wellen waren das einzige, was ihrem eingefallenen Gesicht Farbe verlieh. Doch auch dieses war inzwischen spröde geworden, als wäre es, genau wie sie vom Leben erschöpft. Zitternd, als könnte sie sich kaum auf ihren billigen roten Highheels halten, taumelte sie in seine Arme. Es tat ihm weh, sie so zu sehen. Und es kostete ihn mehr Anstrengung sie einfach nur zu halten. Er wollte mit ihr reden. So oft hatte er es schon versucht. Und trotzdem stand sie jeden Samstag wieder vor seiner Tür. Vollgepumpt mit Molli und all den Tabletten, die ihr Fremde im Nachtleben von Berlin in den Cocktail mischten. An ihren Tränensäcken hing die Last der Einsamkeit. Sie war einmal wunderschön gewesen. Die lebendige Verkörperung von Freiheit. Bis die Realität ihre rosarote Welt hatte zusammenbrechen lassen. „Ich will schlafen, Tom“, mummelte sie in sein Sweatshirt. Er streichelte ihr Haar, ohne zu antworten. „Jeden morgen, wenn ich aufstehe, habe ich Angst vor dem Tag. Und jeden Abend, wenn ich schlafen gehe, bereue ich das, was passiert ist.“ Angel ließ sich in seinen Armen nach hinten sacken. „Ich will einfach nur schlafen. Für immer. Bis in die Ewigkeit.“ Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Die Augen geschlossen. Tränen malten helle Bahnen auf ihre von Mascara verschmierten Wangen. „Was redest du da?“, fragte Tom bestürzt. Sie seufzte. „Weißt du, Bruder. Irgendwann wird die Dunkelheit zum Geschenk.“ Sie sprach undeutlich. „Tu das nicht. Du weißt, wie sehr ich dich liebe“, versuchte er es. Ihre Lider flatterten, als hätte sie Schwierigkeiten sie offen zu halten. Sie lächelte. „Ich…ich fliege, Bruder“, lallte sie. Dicke Schweißtropfen quollen aus ihren mit Make-up verstopften Poren. „Der Schatten….“ Ihr verschleierter Blick verlor sich irgendwo in der Unendlichkeit. „So…so wunderschön, so….“ Sie lächelte, wie sie schon lange nicht mehr gelächelt hatte. Es erinnerte ihn daran, wie sie früher gelächelt hatte, wenn er sie mit der Wasserpistole durch den Garten gejagt hatte. Oder wenn er ihr auf der Kirmes Zuckerwatte geschenkt hatte. Sie hatte immer Rosafarbene gewollt. Sie fand, sie sah aus, wie Wolken aus dem Feenland. Sie lächelte, als könnte nichts ihre Mundwinkel davon abhalten, den Himmel zu berühren. Die leere Dose Tabletten glitt ihr aus den Fingern. „So…so wunderschön….“
© Pauline Marisol Schrank 2022-08-01