von Sandra Handschuh
Was tut man, wenn man im Auto an einer Ampel steht und das Licht auf Grün springt? Richtig: man fährt. In unserem Städtchen landet man dafür allerdings vor Gericht. Zumindest, wenn man losfährt, während auf der Straße noch ein alter Mann mit Hut verweilt, der es während der gesamten Grünphase der Fußgängerampel nicht geschafft hat, auf die andere Seite zu gelangen. Und wenn besagter alter Mann mit Hut dadurch stürzt und sich die Hüfte bricht. Und man den Hut des alten Mannes überfährt. Und der Hut nicht irgendeinem alten Mann gehört, sondern einem pensionierten Richter.
Hier stehe ich also, vor einer Richterin, die ebenfalls in Kürze das Pensionsalter überschritten haben dürfte und zupfe mir einen Fussel von meiner einzigen Krawatte. Der Spaghettitarzan neben mir nennt sich Pflichtverteidiger, und gegen seinen Anzug wirkt mein C&A Ausverkaufsmodell wie die neueste Kollektion von Versace. „Keine Sorge“, flüstert er mir zu und verrät mir dadurch, dass Zwiebel ein wesentlicher Bestandteil seines Mittagessens war, „Wir hauen Sie da schon raus!“ Sein triumphierendes Lächeln verrät mir, dass auch Schnittlauch Teil davon war.
„Herr Simons, was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“, fragt mich die Richterin streng. Noch bevor ich den Mund öffnen und zu meiner überzeugenden Antwort anheben kann, fährt mir das Schnittlauchgesicht in die Parade: „Mein Mandant hat den ehrenwerten Herrn Tschinkowski nicht gesehen, euer Ehren.“ Lustig, sowas Ähnliches wollte ich auch sagen.
„Nicht gesehen? Verkaufen Sie mich nicht für dumm. Ich würde gerne die Aussage des Angeklagten hören.“ Jetzt kommt’s. Ich atme tief durch, sammle all meinen Charme aus den tiefsten Ritzen meines Innersten zusammen und sage: „Ich konnte ja nicht wissen, dass er Richter ist.“
Dem Blick der Richterin nach zu urteilen, war das nicht die richtige Antwort. „Ich hatte es äußerst eilig. Ich war auf dem Weg zu einem medizinischen Notfall.“ – „Schluss jetzt!“, tönt die Richterin und klopft mit ihrem kleinen Holzhämmerchen auf ihren schönen Schreibtisch. „Meinen Unterlagen zufolge sind Sie Reisekaufmann ohne Beschäftigungsverhältnis, Herr Simons.“
„Na schön“, resigniere ich, „Ich war spät dran, der ehrenwerte Herr Tschinkowski war mir zu langsam und ich dachte, es passt sicher, dass ich an ihm vorbeifahre. Tut mir echt leid.“
„Wie es scheint, haben Sie ein Problem mit älteren Leuten, Herr Simons. Vor elf Monaten haben Sie einer älteren Dame an der Supermarktkasse nahegelegt – ich zitiere – , ihren alten, faltigen, vertrockneten Hängearsch endlich über den Jordan zu befördern‘.“ Oh-oh. Mir fällt schon noch was ein. „Ich verurteile Sie zu einhundert Sozialstunden in einem Alten- und Pflegeheim.“ Oder auch nicht. Das kleine Hämmerchen klopft das Urteil tief in meine Seele und ich verfluche den blöden Hut.
© Sandra Handschuh 2022-06-20