Die ‚verlorene‘ Tochter

Denise-Skorpion-Jungfrau

von Denise-Skorpion-Jungfrau

Story

Als Kind empörte mich die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn. Der Fleißige hatte die Arschkarte gezogen, während der Sohn, der alles verprasste hatte, bei seiner Rückkehr mit Festessen umjubelt wurde. Ungerecht fand ich das, wo man mir einbläute, dass Fleiß eine hohe Tugend war.

Das Leben lehrte, dass man auch als Frau anscheinend nur aus der Ferne wieder heimkehren muss, um die Beliebteste zu werden.

Als meine Mutter über 90 im Heim war, fuhr ich in größeren Abständen nach Belgien und verbrachte sehr viel Zeit mit ihr. Meinen Besuch kündigte sie groß an, sodass alle HeimbewohnerInnen und das ganze Pflegepersonal von meinem Kommen wussten. Als ich erschien, begrüßten mich alle überschwänglich und wussten dass ich die jüngste Tochter war, aus Österreich kam und jetzt eine Festwoche bevorstand. „Ach wie schön, dass du soviel Zeit mit deiner Mutter verbringst und dann noch die weite Reise“! Meine Mutter :“ Du bist so gut zu mir“ und gleich beklagte sie sich über meine Schwester, die sie mindestens 3 mal pro Woche besuchte, alles für sie organisierte und erledigte. Ich rückte die Dinge zurecht, aber ihre Sichtweise änderte sich nicht wirklich.

Als ihr Tod nahte, schwang einer meiner Brüder mit dem gleichen Weihrauchfass. Angekündigt hatte er meinen Besuch im Heim : „Sie werden sehen, wenn unsere jüngste Schwester aus Österreich kommt, dann geht’s der Mutter wieder besser“. ‚Besserwerden‘ wurde zum ‚Gehenlassen‘, sich dem Abschied hinwenden. Und ja, als aus der Ferne Kommende half ich meiner Mutter ihren Frieden zu finden „alle meine Sünden sind vergeben“ waren ihre letzten Worte und sie wurde ganz ruhig.

Wo meine, im Alter sanftmütig gewordene Mutter, noch drei Wochen vorher mit allerWucht einen Blumentopf an die Wand geknallt hatte! Meine Dankbarkeit und Liebe gaben ihr Mut diese Welt zu verlassen. Sie starb 5 Tage nach meiner Rückkehr nach Österreich.

Auch bei Viktoria, die ich regelmäßig im Altenheim besuche, bin ich im Vergleich zu ihrer Schwiegertochter, Christine, die sie mehrmals in der Woche besucht, alles für sie erledigt und sich rührend um sie kümmert, der seltene Gast. Und auch hier wieder „Es ist so schön mit dir, mit dir mache ich wundervolle Spaziergänge“ und mit leicht unterschwelligem Groll „Christine hat dafür keine Zeit“. Inzwischen fügt sie schnell hinzu, „na ja Christine organisiert ja viel für mich“.

Wikipedia zur Gerechtigkeit : „Die Grundbedingung dafür ist, dass ein menschliches Verhalten als gerecht gilt, wenn Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt wird“. Aha, die Bibel ist wirklich ein kluges Buch. Die Geschichte von Martha und Maria-Magdalena fällt mir jetzt ein und im Alten Testament: Kohelet ‚Alles hat seine Zeit‘. Nicht immer ist Fleiß die höchste Tugend. Hab ich es endlich kapiert?

Übrigens meine Mutter hieß Godelieve = die von Gott Geliebte = nicht Fleiß sondern Liebe wurde ihr als Leitmotiv mitgegeben!

© Denise-Skorpion-Jungfrau 2019-06-02