Die vermisste Schwester

EmberGlaze

von EmberGlaze

Story

Ich stand vor dem neunten Döner-Laden, hatte stechende Kopfschmerzen, war müde, verzweifelt und hatte wieder keinen Hinweis auf meine Schwester bekommen.

Meine Freundin drängte mich zu einer Pause und gegenüber war ein kleines entzückendes Straßenkaffee. Sie wissen schon, so eins, in das man sich sofort verliebt. Ich setzte mich, meine Freundin nahm mir gegenüber Platz und wir bestellten einen großen Kaffee. Ich sah den besorgten Blick meiner Freundin, der auf mir ruhte. Die letzten Tage waren anstrengend. Ich hatte den Tod meines Bruders vor ein paar Monaten noch nicht verkraftet. Und nun kein Lebenszeichen von meiner Schwester.

Ich ließ die letzten paar Tage Revue passieren. Der Anruf der Ausbildungsstätte meiner Schwester kam überraschend. Es war ein paar Wochen nach ihrem 18. Geburtstag und sie war verschwunden. Ein Brief von ihr lag auf dem Tisch, in dem sie schrieb, dass sie nicht wiederkommt. Nun bat mich die Ausbildungsstätte, das Zimmer in der WG zu räumen und die restlichen Schulden zu begleichen, da ich als Notfallkontakt hinterlegt war. Seit ich denken konnte, hatte ich immer hinter meiner Schwester aufgeräumt. Dadurch, dass wir keine Eltern hatten, dachte ich, es wäre meine Aufgabe. So fuhr ich mit meiner Freundin den langen Weg von Stuttgart nach Hamburg. Da angekommen, nahm ich ihre privaten Sachen, den Brief und zahlte die Schulden. Keiner wusste, wo sie hingegangen war, nur dass die letzten Monate sehr anstrengend mit ihr waren, dass sie einen Türken kennengelernt hatte und sein Vater in Hamburg einen Döner-Laden hatte.

Jetzt saßen wir fix und fertig in einem Kaffee und hatten nichts. Keiner wusste was von meiner Schwester. Aber es gab ja noch über 48 Döner-Läden in Hamburg. Plötzlich ging die Tür auf und der Besitzer des Döner-Ladens von gegenüber kam rein und steuerte direkt auf uns zu. Er strahlte über das ganze Gesicht, winkte mit einem Zettel und drückte mir eine Adresse von einem anderen Döner-Laden in die Hand. Verblüfft schaute ich ihn an. Er grinste. „Wir Türken sind gut vernetzt.“ Meine Geschichte meinte er, hatte ihn berührt.

Aufgeregt zahlten wir und fuhren los. Lange 40 Minuten. Wir redeten nichts. Voller Hoffnung ging ich in den Laden. Es dauert kurz, bis ich mich an das Licht gewöhnt hatte. Ich sehe einen älteren Mann hinter der Theke stehen. Er schaute auf und ich fing mit bewegter Stimme an zu erzählen. Aufmerksam hörte er mir zu. Am Ende der Geschichte langte er zu seinem Handy und wählte. Erst folgte ein heftiger türkischer Austausch, dann reichte er mir kommentarlos das Handy.

Ich nahm das Handy an mein Ohr und meldete mich mit meinem Namen. Ich hörte die Stimme meiner Schwester, die trotzig sagte: „Was willst du? Ich komme nicht zurück, lass mich in Ruhe. Ich bin übrigens schwanger.“ Ich wusste nun, wo meine Schwester war, und dass ich nicht mehr für sich verantwortlich war.

Manchmal muss man einen Menschen gehen lassen, um wieder glücklich zu werden.

© EmberGlaze 2022-10-11

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