Die versteinerte Zeit

Hannes Stuber

von Hannes Stuber

Story

Auf der Fahrt nach Troyes in der Champagne erlebte ich kurz vor der Stadt einen majestätischen Abendhimmel. Zu meiner Linken hoben sich rote spiralförmige Wolkenformationen vom türkisfarbenen Himmel ab, rechts hatten sich bedrohliche dunkle Wolkentürme aufgebauscht. Licht und Finsternis, Tag und Nacht, eine dualistische Welt, und ich fuhr mitten hindurch. Links von der Straße herrschte das Licht, das Gute, rechts die Finsternis, das Böse.

Die Estafette, mein kleiner Wohnbus überquerte die Seine, hier keine zehn Meter breit, auf einer alten steinernen Brücke, die aussah, als stammte sie aus der Zeit der Tempelritter. Ich fuhr ins Zentrum von Troyes. Die grellen Lampen und Neonreklamen blendeten mich. Vom vielen Sitzen im Auto war ich ganz steif und unbeweglich geworden, der Rücken schmerzte, die Schultern brannten. Ich kletterte aus dem Wagen, streckte mich ausgiebig und dehnte die Sehnen.

Vor der mächtigen Kathedrale befand sich ein Café. Ich bestellte schwarzen Kaffee, einen Kuchen und ein Cola-Rum. Abwechselnd die beleuchtete Front der Kathedrale draußen und die vielen angehefteten Geldscheine hinter der Theke anstarrend, schlürfte ich meine Getränke. Jugendliche saßen in einer Ecke des Cafés und unterhielten sich gut gelaunt.

Ich warf eine Münze in die Musik-Box. Viel Auswahl gab es nicht. Nach dem Verlassen des Lokals schlenderte ich zur Kathedrale hinüber. An den Außenwänden hingen unzählige kuriose steinerne Monster, abstoßende Fratzen, die das Böse vertreiben sollten und mit Scheinwerfern bestrahlt wurden. Der Baumeister der Kathedrale war ein Templer gewesen und hatte sich steinern auf der Südseite des Gebäudes verewigt. Der Sakralbau hatte nur einen Turm seitlich. Das erweckte einen asymetrischen Eindruck, als suchte man nach dem Ausgleich, dem Gleichgewicht der Kräfte, indem man sich den fehlenden Turm auf der anderen Seite vorstellte. Ich starrte auf die Stelle des fehlenden Turmes, aber ich sah den Unsichtbaren nicht.

Ich betrat den Innenraum, ging die Seitenaltäre ab, den Kreuzgang entlang, bestaunte die Gemälde. Die Kathedrale war 1129 der Sitz des Konzils von Troyes gewesen, als der Templerorden vom Papst bestätigt wurde. Leider war der Orden knapp zwei Jahrhunderte später an der Gier des Adels und des Klerus gescheitert und eliminiert worden.

Was das Besondere dieser Kathedrale ausmachte: der Goldene Schnitt. In den Abmessungen des Grund- und des Aufrisses ist der Goldene Schnitt so oft enthalten wie in keiner anderen Kirche Frankreichs.

Ich nieste zweimal. Es war kühl in dem steinernen Gotteshaus, das exakt 365 Fuß Länge misst, eben soviel Fuß, wie das Jahr Tage hat. Der Hinweis auf das Erdenjahr, auf einen ewig gleichbleibenden Rhythmus, war ein Symbol der Zeit, die mit dieser Kirche zu Stein geworden war. Ich ging langsam zum Ausgang und studierte im Vorbeigehen die schönen bunten Glasmosaikfenster und meditierte über die Stein gewordene Zeit … die Ewigkeit.

© Hannes Stuber 2020-08-03

Hashtags