von Monika Hütter
Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich noch hier bin. Während ich auf meine halb vertrocknete Zimmerpflanze starre frage, ich mich wie man als junger Mensch schon so viel aushalten kann. Mir kullert eine Träne über meine Wangen. Eine Träne nach der anderen kullert über meine Wangen und ich beginne bitterlich zu weinen, als ich an meine Schule denken muss.
Meine Tränen, eine nach der anderen – genauso wie der Novemberregen von heute Morgen. Doch ich weiß, dass es mir guttut zu weinen. Allein, allein … ich bin allein – doch ich weiß welche enorme Stärke ich an all den Tagen entwickelt habe, an denen ich schon allein war. Es ist mittlerweile wie meine Superkraft und ständig wird sie mächtiger – an jedem einzelnen Tag an dem ich allein bin. Allein, Allein, ertönt ein Lied aus dem Radio. Wir schauen in Gesichter. Warten auf ein Zeichen. Wir sind allein. Allein, allein.
Ich sitze also wieder hier – allein. Es ist der erste Tag im neuen Schuljahr und über die Sommerferien scheint sich nicht viel verändert zu haben. Die Cliquen scheinen immer noch die gleichen zu sein und es gab wohl auch nicht viel Streit, sodass sich keine der Grüppchen aufgelöst hat. Ich blicke aus dem Fenster und beobachte wie ein Blatt, nach dem anderen sich auf dem Weg vom Ahornbaum zum Boden macht. Ich rechne nicht mehr damit, dass sich jemand zu mir setzt und packe meinen Rucksack auf den zweiten Stuhl. So habe ich mehr Platz denke ich mir und versuche eine geflüchtete Träne zu verbergen, die mir beinahe über die Wange gekullert wäre.
In der anderen Ecke des Klassenraumes wird getuschelt und gelacht. Ich fühle mich wie meine vertrocknete Zimmerpflanze, durstig, kraftlos und ohne jegliche Lebensfreude. Ich notiere mir in meinem blauen blanko Notizblock, dass ich heute meine Pflanze gießen muss. Ich muss mich um sie kümmern, damit sie wieder auf die Beine kommt, denke ich mir.
Als die Glocke zur ersten Stunde läutet, kommt unser Klassenvorstand einem Schüler zur Tür herein. Sie stellt ihn uns als neuen Schüler vor. Er steuert auf den freien Sitzplatz neben mir zu. Ich hebe den Rucksack vom Stuhl und während er sich bedankt wischt er ein blondes langes Haar aus seinem Gesicht.
Als ich zu Hause in meinem Rucksack einen Zettel entdecke, bin ich verwundert und habe Angst, dass es wieder ein Streich sein könnte. Doch ich öffne den Brief dennoch und erblicke eine wunderschöne Handschrift. Im Brief steht: „Deine Pflanze ist nicht die einzige, die Wasser benötigt. Ich habe das Gefühl, ich muss mich darum kümmern, damit du wieder auf die Beine kommst – Tom“
© Monika Hütter 2024-04-25