Die Warnung

Lisa-Marie Fellner

von Lisa-Marie Fellner

Story

Überraschend ausgeruht machte sich Emma am nächsten Morgen auf den Weg in die Uni. Heute standen drei Vorlesungen an, die sie allerdings nur wenig interessierten. „Wenigstens keine Übung, sondern nur zuhören“, dachte Emma, als sie die schwere Doppelflügeltüre ihres Instituts aufstieß. Die Zeit verging schleppend und Emma hatte Mühe, ihre Gedanken im Hörsaal zu halten. Sie saß an ihrem Lieblingsplatz, ungefähr auf halber Höhe des Saales, neben einem großen Fenster, das auf den Campus hinaus ging.

In der zweiten Hälfte der letzten Vorlesung versuchte Emma krampfhaft nicht einzuschlafen. Um sich wach zu halten, blätterte sie durch ihre am Tisch vor ihr liegende Literatursammlung. Als sie zum dritten Mal den Stapel durchgeblättert hatte, dachte sie bei sich: „Ach, was soll’s?“ und befasste sich mit dem Buch, dass sie eigentlich am Nachmittag wieder in die Bibliothek bringen wollte. Sie hatte es noch gar nicht richtig aufgeschlagen, da krachte plötzlich etwas gegen das Fenster. Emma erschrak und sah sich im Hörsaal um. Bei dem Lärm mĂĽsste eigentlich der ganze Saal aufgeschreckt sein, doch keiner zuckte auch nur mit der Wimper. Selbst der Dozent unten an der Tafel hielt seinen Vortrag unbehelligt weiter. BONG! Schon wieder war etwas gegen das Fenster gekracht. Diesmal sah Emma, dass es ein Taube war, die unaufhörlich gegen die Glasscheibe prallte. Bei genauerer Betrachtung sah die Studentin, dass dem Tier ein Auge fehlte. Verstört von dem Anblick und verwirrt, dass keiner von dem Lärm Notiz nahm, verlieĂź die Studentin den Hörsaal.

Draußen atmete sie tief durch, da gurrte es plötzlich und im nächsten Augenblick flog die Taube durch ein offenes Fenster herein, warf Emma etwas vor die Füße und so schnell wie sie gekommen war, war sie auch wieder durchs Fenster hinaus. Emma sah hinunter und erkannte, dass es sich bei dem kleinen runden Objekt um ein menschliches Auge handelte. Sie presste sich beide Hände vor den Mund, um einen Schrei des Entsetzens zu unterdrücken. „Ich muss unbedingt an die frische Luft!“ Auf dem Weg nach draußen überholte sie sich bei nahe selbst. Im Innenhof setzte sich das Mädchen auf eine Bank und versuchte die aufkommende Panikattacke in Zaum zu halten. Es begann zu hageln. Emma suchte unter dem nächsten Vordach Unterschlupf. Dutzende Hagelkörner gingen zu Boden, doch das Wetter war schön und die Sonne schien. Emma sah in den Himmel und kniff die Augen zusammen. Sie erkannte eine riesige Schar Vögel, die über der Universität kreisten. Ansonsten war der Himmel strahlend blau und wolkenlos. „Woher kommt dann der Hagel?“, wunderte sie sich. Als das nächste Hagelkorn vor Emmas Füßen landete und sie anstarrte, war klar, dass es doch kein Hagel war. Die Vögel ließen menschliche Augäpfel regnen. Das war Emma zu viel. Sie rannte zurück in das Institutsgebäude, auf der anderen Seite wieder hinaus und Schnurstracks zu Bibliothek.

© Lisa-Marie Fellner 2022-08-30