Die weiße Taube und das hässliche Entlein

AureliaEloy

von AureliaEloy

Story

„Es ward Licht. Es war ein Lichtermeer.“ sagte die weiße Taube zum hässlichen Entlein.

Müde sah es auf und sprach

„Was gab es noch?“.

Leise seufzte die Taube und strich dem Entlein über das kleine Gesicht.

„Es war ein Lichtermeer. Voller Liebe. Voller Glück und von Schmerz ohne Wert.“

Sie sahen auf die Trümmer, die langsam von den hungrigen Wassermassen verschlungen wurden.

„Warum ist das passiert?“ sagte das Entlein und zeigte mit seinem Flügel auf seine toten Eltern inmitten der vielen anderen Toten und Trümmern.

Die Taube sah auf das Entlein hinab.

Das Entlein war den Tränen nahe.

Die dicken Tropfen sammelten sich in den Augen des armen Geschöpfes.

Die Klippe auf der sie standen schien sie so fern von all dem Grauen zu halten, dabei wusste die Taube genau, dass sie das Grauen waren. Dass diese Welt grau und verloren war. Irgendwann würde sich die Natur alles wiederholen und in vielen weiteren Jahren könnten bestimmt einige Archäologen die Überreste einer jenen, verdammtem Welt finden und versuchen sie zu rekonstruieren. Dieses Mal aber ohne den massiven Graufilter, die Erinnerungen und die Taten die sich hier zugetan hatten. Ohne all die Dinge die diese Welt zu Fall gebracht hatten.

Die Taube neigte ihren Kopf nach vorn und küsste das Entlein auf den Kopf. Das Entlein hatte die Augen geschlossen, wusste es doch ganz tief im inneren, was nun geschehen würde.

Noch ein letztes Mal sah die Taube das Entlein an und mit einem Blick voller Liebe und grenzenlosen Mitgefühl, bevor es das elendige Wesen die Klippe hinab stieß. Einige Sekunden die sich viel zu lang anfühlten vergingen und ein dumpfes Geräusch brach die Totenstille. Die Taube sah die Klippe hinab. Da lag nun das Entlein, ein elendiges, unnatürlich daliegendes, Häufchen, nur noch etwas Blut weiße Knochen und Federn, reduziert auf das, was es eigentlich schon immer war.

Die Taube sah auf ihre weiß glänzenden Federn hinab und sprach dann

„Weil du sterben musst, damit ich leben kann. Weil das hier sterben muss, damit meine Welt mir Luft zum Atmen lässt. Das ist warum.“ sagte sie langsam aber mit sicherer Stimme und flog mit weit ausgebreiteten Flügeln weit, weit weg, in eine viel bessere Welt davon. 

© AureliaEloy 2023-08-13

Genres
Romane & Erzählungen