Die Wolke ist da

Heidemarie Leitner

von Heidemarie Leitner

Story

Wie gewohnt sitze ich gemütlich im Wohnzimmer auf der Couch und halte meine 4 Monate alte Tochter im Arm und gib ihr das Fläschchen. Im Radio läuft Ö3. Plötzlich gibt es eine Meldung über einen Atomunfall in Tschernobyl.

Ganz in Gedanken und meiner kleinen heilen Welt versunken, fährt es mir eiskalt durch den Körper. Instinktiv drücke ich meine kleine Tochter ganz fest an mich heran. Ich kann den Worten des Moderators nicht wirklich folgen. In meinem Kopf werden alle Rezeptoren, die jeweils das Wort Atom vernommen haben, wach. Ich bin verzweifelt, habe nur noch Angst. Es dauert ein paar Minuten bis ich in der Lage bin, wieder in der Realität anzukommen.

Traurig schaue ich meine kleine Tochter an und denke mir: „Das war´s dann wohl!“

Meine Generation, die ständig mit der Bedrohung eines Atomkrieges im kalten Krieg konfrontiert war. Wo wir die schrecklichen Bilder des Atomabwurfes und deren Folgen in Japan 1945 in der Schule ausführlich dokumentiert bekamen und ich mich entschieden auch gegen eine friedliche Nutzung der Atomkraft ausgesprochen habe. Die vermeintliche Sicherheit, der Grenzzaun um das atomfreie Österreich, hat nicht gehalten. Eigentlich ja absurd und eine naive Kindheitsvorstellung, dass wir uns in einem Kokon einwickeln könnten und nur herauskommen, wenn wir unsere Freiheit suchen.

Aber was mach ich jetzt wirklich? Soll ich das Notfallprogramm aktivieren, wie wir es gelernt hatten, falls es zu einem atomaren Schlagabtausch der Supermächte in Europa kommen würde? Soll ich gleich Jod zu mir nehmen? Aber was mach ich mit meinem Baby? Darüber habe ich nichts gelernt. Zumindest waren alle Fenster und Türen zu. Ich entschied mich den Fernseher einzuschalten und hoffte dort mehr Informationen zu erhalten. Fehlanzeige, es gab nur viele Expertenmeinungen und wenig was mir in dieser Situation helfen konnte.

Das Telefon läutete. Meine kriegserfahrenen Eltern versuchten mich zu beruhigen und rieten mir erstmals in der Wohnung zu bleiben und abzuwarten – mit dem Nachsatz meiner Mama – „Der Herrgott wird’s schon richten.“ Wenig später kam mein Mann nach Hause und wir stellten beide fest, dass uns jetzt die atomare Wirklichkeit, wenn auch nicht durch machthungrige Kriegshelden, sondern durch an den Fortschritt glaubende Wissenschaftler, eingeholt hatte.

In den nächsten Tagen und Wochen gab es dann mehr Informationen. Massnahmen und Verordnungen wurden erlassen. Der Alltag kehrte wieder ein. Die Bilder des zerstörten Unglücksreaktors waren ja weit weg in der Sowjetunion. Im schönen Österreich war nichts von einer zerstörten Umwelt zu sehen.

Kuriose Dinge, wie der Austausch des Spielsandes von öffentlichen Sandkisten, oder der Verzehr von Glashaussalat mit reinem Wasser aus dem nahegelegen Bach, sind da nur einige Beispiele, wie wir Menschen mit nicht sichtbaren Katastrophen umgehen.

Ich hoffe, meine hier erzählte Geschichte verbreitet sich mit atomfreiem Strom.

© Heidemarie Leitner 2020-03-06

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