Die Wut der Mütter

NeleChryselius

von NeleChryselius

Story

Das Buch von Harald Martenstein musste ich sofort kaufen, als ich davon erfuhr. In ‘Wut’ beschreibt er seine Kindheit und das Verhältnis zu seiner blindwütigen Mutter. Auch ich hatte eine Mutter, die sich oft in ihre Raserei hinein steigerte. Als ich das Buch aufschlug, sah ich sie wieder vor mir, die prügelnde und schreiende Frau. Ich war überrascht, dass mich das Thema doch noch interessierte. Ich hatte gedacht, ich sei damit durch.

Ich musste das Buch oft zur Seite legen. Die Härte, mit der die Mutter den Sohn behandelt und abweist, ist schwer zu ertragen. Immer wieder dachte ich während des Lesens an das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir. Sie war nicht so gewalttätig, aber genauso kaltherzig und abweisend. Mütterliche Liebe spürte ich nie. Meine Mutter war verbittert und gab mir die Schuld an ihrem unglücklichen Leben, so wie auch Martenstein von seiner Mutter für deren Leben verantwortlich gemacht wurde.

Harald Martenstein ist ein paar Monate jünger als ich und konnte, wie er im Prolog sagt, seine Geschichte erst vor kurzem aufschreiben. Wir sind also in derselben Zeit aufgewachsen und unsere Mütter behandelten uns so, wie es damals “normal” war. Ungewollten Kindern wurde unverhohlen gesagt und gezeigt, dass sie unerwünscht und lästig, ja verantwortlich für das verpfuschte Leben ihrer Eltern waren. Das ist der Grund für die Brutalität, die uns entgegenschlug.

Ich vertraute bereits als Kind meinem Tagebuch den Schmerz über die lieblose Mutter an, das war tröstlich. Martenstein musste über 60 Jahre alt werden, um über seine Erlebnisse schreiben zu können. Wie hat er es so viele Jahre ausgehalten, zu schweigen? Das ist für mich unvorstellbar.

Ich setzte mich bis zu ihrem Tod immer wieder mit meiner Mutter auseinander. Mit etwa 30 Jahren sagte ich mir: “ Ich lass‘ mir die Liebe zu meiner Mutter nicht von ihr kaputtmachen.” Mit 40 begriff ich, dass mir diese Einstellung nicht guttat.Eine Therapie half mir, das, was ich verstandesmäßig längst begriffen hatte, auch gefühlsmäßig zu begreifen. Ich habe auf meine Art Frieden geschlossen, nachdem ich meine Mutter zum letzten Mal sah, etwa 20 Jahre bevor sie starb. Aber erst als sie nicht mehr lebte, war ich sicher, dass sie mich nicht mehr verletzten konnte.So furchtbar es klingen mag, erst als sie vor zehn Jahren starb, kehrte wirklich innere Ruhe ein. Verziehen habe ich meiner Mutter – im Gegensatz zu Harald Martenstein – nicht.

„Es ist leichter zu verzeihen, wenn man der Stärkere ist”, schreibt Martenstein.

Am Ende seines Buches erinnert er sich an die einzige Zärtlichkeit seiner Mutter und schreibt dazu: “Ich bin süchtig danach, ihre warmen weichen Hände in meinen Händen zu spüren.”

Über diese zwei Aussagen, die ich widersprüchlich finde, denke ich nach.

Ich spüre die Sucht nicht, die er beschreibt. Aber die neuen Denkanstöße führen vielleicht dazu, doch noch verzeihen zu können.

© NeleChryselius 2021-11-30