von Michelle Mück
Als mein erster Zahn zu wackeln begann – es war der untere Schneidezahn links – erzählte mir meine Schwester Elise, dass nun die Zahnfee zu mir kommen würde, um ihn sich zu holen. Die Zahnfee, sagte sie, sei eine entsetzlich entstellte Frau. Niemand wisse, wie sie genau aussehe und sie wolle auch, dass das so bleibt. Deswegen kratzte sie den Kindern, die ihre Augen öffneten, wenn sie kam, diese aus und schnitt ihnen die Zunge ab. Doch ein paar Kinder hatten unbemerkt einen Blick erhaschen können und erzählten von geschmolzenen Gesichtszügen, langen, spitzen Fingernägeln und zahnlosen Kiefern, die lose hingen, als seien sie nicht miteinander verbunden. Man wisse, dass sie da war, wenn man das Kratzen ihrer Fingernägel an den Fenstern hörte. Durch diese käme sie dann auch in die Kinderzimmer hinein. Das nächste was man dann hörte, wäre ihr schlurfender Gang.
Ich hatte auf Anweisung meiner Mutter den inzwischen ausgefallenen Zahn widerstrebend unter das Kopfkissen gelegt. Natürlich fürchtete ich, dass dieser die Zahnfee erst zu mir locken würde, doch Elise hatte auch erzählt, dass die Zahnfee es direkt wisse, wenn einem Kind der erste Zahn ausgefallen sei und furchtbar wütend werde, wann sie diesen dann nicht unter dem Kissen finden würde. Aus Angst vor der Zahnfee schlief ich neben dem Kissen, statt darauf, damit ich ihr auch ja nicht in die Quere kam. Die ganze Nacht lag ich wach und fürchtete mich vor ihrem Eintreffen. Wenn ich ein Geräusch hörte – und ich bildete mir oft ein, das Kratzen der Fingernägel zu hören – presste ich meine Augen so fest zu, dass es weh tat. Ich zog mir die Decke über das Gesicht und presste die Hände auf die Decke. „Nimm den Zahn, aber lass mir meine Augen,“ dachte ich.
Irgendwann muss ich doch eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte, war der Zahn verschwunden und eine kleine Puppe war stattdessen unter dem Kissen gebettet. Ich sandte ein Dankesgebet zum Himmel, dass die Zahnfee mich erhört und ich das erste Zusammentreffen mit ihr gut überstanden hatte. Weitere Zähne gingen und weitere Geschenke kamen.
Aber die Angst vor der Zahnfee blieb, sie blieb sogar noch lange nachdem mein letzter Zahn ausgefallen war und meine Kiefer wieder voll besetzt waren. Ich glaube, ein Grund warum ich selbst nie Kinder bekam, war, dass ich Angst hatte, dass eines Tages die Zahnfee kommen würde, um ihre Zähne zu holen – und wenn sie schon dabei war ihre Augen und Zunge mitnehmen würde.
© Michelle Mück 2022-07-18