Die Zeit, die alle Wunder heilt

Zehn Quadratmeter, wenn überhaupt. Eine Dachschräge. Eine kleine Luke von einem Fenster, direkt am Boden. Ein großes Bett, frisch bezogen, nur für mich. Der wohltuende frische Wind der Klimaanlage. Ein Knarren bei jedem Schritt über den alten Holzboden. Das getrocknete Meersalz auf der Haut, der Duft der verschmierten Sonnencreme am Kragen. Und der Gedanke an wiedererlangte Freiheit. Der Junior braucht mich erstmals seit sehr langer Zeit nicht. Es geht wieder um mich. Es ist mein perfekter Moment des Jahres. Das alte iPad spielt Musik noch immer viel zu dumpf. Und doch so gut. Es singt mir ein Lied über die Endlichkeit der Liebe. Und erinnert mich daran, dass ich die Schönheit dieses Lebensabschnitts auch einer Frau zu verdanken habe. Einer Frau, die nicht bei mir ist, mit der ich das perfekte Gefühl aber gerade telefonisch geteilt habe. Ich bin alleine, doch ich bin zufrieden. Ich fühle mich angekommen. Es ist so viel demütige Freude in mir. Ich habe viel zu viele Schmetterlinge im Bauch und weiß ganz genau: Das Verliebtsein wird nicht bleiben. Es wird kapitulieren. Vor der Schwere des Alltags, vor dem Misstrauen, vor dem Auseinanderleben – oder einfach nur: vor der Zeit, die alle Wunder heilt.

Und jetzt? 20 Quadratmeter, wenn überhaupt. Keine Dachschräge, zwei große Fenster, die Herbstsonne im Nacken. Eine große Couch, vollgeräumt. Der Geruch von altem Salatdressing. So viel Lustlosigkeit, so viel Leid. Die ersten traurigen Tränen des Jahres. Der Junior braucht mich heute nicht mehr. Es geht einmal mehr nur um mich. Ich erlebe auch den schlimmsten Moment des Jahres mit mir selbst. Aber nicht alleine. Eher einsam. Der Soundtrack der Sommerliebe läuft in Dauerschleife, ich beame mich in das kroatische Ferienappartement. Zu viel von mir ist in der Vergangenheit, mir fehlt die Kraft für die Gegenwart. Stopp. Zeit für eine neue Playlist. Ich gehe raus. Wolkenloser Himmel. Ich muss an ein Sprichwort denken, als ich das schöne Blau sehe. Und kann wieder lachen. Ja, ich will ein neues Wunder erleben. Aber kein blaues.