Die Zeit heilt gar nichts

PoeSy

von PoeSy

Story

„Die Zeit heilt alle Wunden!“ Ist es so? Sicher, mein Schienbeinbruch heilte innerhalb von ein paar Wochen, aber psychische Verletzungen mag allein die Zeit wohl kaum heilen. Es bedarf harter (Trauer)Arbeit, um Seelenkummer zu bewältigen. Keine Salbe oder Ruhigstellung wĂĽrden hier helfen. Dennoch braucht es viel Zeit, bis ein kaum erträglicher Schmerz nicht mehr lähmt. Meine Erfahrungen lehrten mich, dass der Schmerz wohl immer da ist, aber ich fĂĽrchte ihn nicht mehr. Er gehört zu meinem Leben und darf da sein. Er kann mich immer noch scheinbar ohne Anlass umwerfen, hat jedoch längst nicht mehr die absolute Macht mehr ĂĽber mich! Traurige Gedanken haben ihren Platz, bestimmen jedoch nicht mein gesamtes Leben. Lachen und Lebensfreude haben in mein Leben zurĂĽck gefunden, und ich bin sicher, dass du damit einverstanden bist.

Heute ist das mit dem Lachen etwas schwierig, aber du konntest nie gut damit umgehen, mich weinen zu sehen. Manches Mal sagtest du dann zu mir: “Weinen ist deine große Stärke!”, und wusstest gar nicht, wie recht du damit hattest. Es ist Stärke, Gefühle zu zeigen, und an deinem Todestag darf ich traurig sein.

Genau vor 2 Jahren bist du vorausgegangen, und ich bin alleine zurĂĽck geblieben. Seither ist mein Leben ein ganz anderes geworden. Mir fehlt das gemeinsame Lachen und unser „einander-ohne-Worte-verstehen“, das absolute Vertrauen, dass du fĂĽr mich da bist. Ich bin wohl, was man eine starke Frau nennt und ich komme gut zurecht, aber auch einmal in den Arm genommen zu werden, schwach sein dĂĽrfen, und mich auf deine Stärke zu stĂĽtzen, das fehlt mir. Im Lichtschein der flackernden Kerze meine ich, dein Gesicht zu erkennen – wie vertraut mir dein Lächeln ist! Ich schlieĂźe die Augen und lasse meine Gedanken in die Vergangenheit reisen:

Wir beide auf der Alm zum Wandern. Bereits auf dem RĂĽckweg zum Parkplatz, braut sich ein Gewitter zusammen. Die Pferde auf der Weide laufen aufgeregt herum. Du gehst mit Aron schnell voraus, um Stress zwischen Hund und Pferden zu vermeiden, ich werde nachkommen. Ein heftiges Donnern lässt sowohl mich als auch die Pferde erschrecken. Im Galopp kommen Haflinger und Noriker, also richtige Kraftlackeln, mir sehr nahe. Ich habe Angst! Beim nächsten Donnern umkreisen mich etwa 15 Pferde. Wie gelähmt stehe ich da, wage keinen weiteren Schritt. Ich könnte heulen vor Verzweiflung, da sehe ich dich zurĂĽck kommen! Mitten durch die Pferdegruppe gehst du langsam auf mich zu. Mit “Hob i mir jo glei gedacht, dass du di fiachtest!”, nimmst du mich an der Hand und geleitest mich an den Pferden vorbei, die uns weiterhin folgen. “Pferde san Fluchttiere, de tuan nix! Se wolln lei deinen Schutz!”, erklärst du mir – und wirklich: die Tiere bleiben völlig ruhig neben uns, während erste Regentropfen fallen.

Du hattest den Hund ins Auto gesetzt und bist den ganzen Weg zurĂĽckgegangen, um mich zu “retten”. So warst du – und genau deshalb fehlst du mir so sehr. Heute. Morgen. Immer! Da kann die Zeit nicht helfen…

© PoeSy 2021-10-12