von Gabriele Leeb
Die Zeiger drehen sich unaufhörlich und ihr rinnt die Zeit durch die Finger wie Wüstensand. Sie hat immer zu wenig davon, nie reicht sie. Die Zeit ist ihr Feind, nie kommt sie hinterher. Was sie auch anfängt oder beginnt, sie bringt es nicht fertig. Die Stunden vergehen zu schnell. Sie hat das Gefühl, ihre Zeit ist besonders eng bemessen. Die Minute hat keine sechzig Sekunden, höchstens vierzig.
Sie hat ihre große Liebe versäumt und ihren Traumberuf. Sie hinkt ständig hinterher. Sie kam zu spät zum ersten Rendezvous und zum Vorstellungsgespräch. Sie verzettelt sich immer und auch die Umstände sind gegen sie. Der Bus hat eine Panne oder der Flug wird abgesagt. Sie findet ihre Autoschlüssel nicht oder ihre Geldbörse. Sie verschläft sich oder das Kind wird krank oder das Blitzeis ist schuld.
Ihr Mann meint ja, es läge an ihr. Sie sei zu wenig organisiert, zu unbeständig, zu unruhig, zu desorientiert. Sie habe zu viele Flausen im Kopf, wenn sie überhaupt etwas im Hirn habe. Er sagt immer zu ihr:“Bei dir herrscht das totale Chaos!“ Und sie rackert sich ab und bemüht sich, doch sie bringt nichts auf die Reihe und die Zeit läuft und läuft.
Bis sie eines Tages die Treppe hinunterfällt. Sie kommt ins Krankenhaus und es ist noch einmal glimpflich ausgegangen. Sie hat etliche Prellungen und ein gebrochenes Schienbein. Sechs Wochen Gips. Die Schwiegermutter kommt ins Haus und kümmert sich um ihren Sohn und die Enkelin und überraschenderweise auch gut um sie. Sie lernen sich in dieser Zeit richtig kennen und sogar zu mögen. Sie meditieren jeden Tag zusammen, denn ihre Schwiegermutter ist der Meinung, sie müsse sich entspannen, einfach nur runterkommen. Sie bietet auch ihrem Sohn Paroli, wenn er die Schwiegertochter wieder verbal angreift und ihre Enkelin bremst sie ein wenig ein in ihren Wünschen und Forderungen.
Auch nach der Gipsabnahme bleibt sie für weitere drei Wochen im Haus und die Atmosphäre zeigt Spuren von Gelassenheit und Entspannung. Ihr Sohn hat Anzeichen von Humor und Respekt und die Enkeltochter schießt nicht mehr so oft über das Ziel. Die Zeit wird zum Freund und alles läuft etwas gemächlicher ab. Die Hektik wird mit dem Hexenbesen aus dem Haus gekehrt und zurückbleibt Harmonie. Und zu guter Letzt kaufen sie ein größeres Haus und die Schwiegermutter zieht bei ihnen ein und die Geschichte endet wie ein modernes Märchen.
Uhr: Louis Moinet
© Gabriele Leeb 2022-11-24