Die Zigarrenschachtel (II)

Lukas Hochholzer

von Lukas Hochholzer

Story

Blind Hooch, – manchmal nannte er sich dennoch so, wenn in ihm das dringende Bedürfnis, jemand zu sein, aufstieg, – legte die Zigarrenschachtelgitarre beiseite, stand auf und lehnte sich gegen die harte Rinde der Trauerweide. Die Sonne am Horizont verschwand allmählich und die Dämmerung des Abends setzte ein. Oft dachte er, dass die Gitterstäbe mit der einsetzenden Dunkelheit ebenfalls verblassen würden, so wie sich auch alles Schöne auf der Welt im Finsteren zu eintönigem Schwarz verwandelte, doch stets das Gegenteil war der Fall. Sie waren nur viel ersichtlicher, wenn die Sonne durch ihr Licht keine Hoffnung mehr hinabstrahlte. Blind Hooch, oder Hooch, – je nachdem, was im Moment besser zu ihm passte, – kehrte zurück ins Dorf. Die Gitarre ließ er bei der Trauerweide, niemand würde etwas so Billiges stehlen. Dort angekommen klopfte er wie jeden Abend an die Türen der einfach zusammengebauten Holzhütten und bat, dort übernachten zu können, und vielleicht noch eine Suppe zu haben, und wenn es ein Feuer im Kamin gab, sich an diesem erwärmen zu können, denn der Oktober war kühl. Es dauerte immer lange, bis ihm jemand Eintritt gewährte, oft musste er auch einfach neben einer der Hütten auf der Wiese schlafen. Er beklagte nichts, warum sollte er auch, die Menschen im Dorf hatten selbst nicht viel mehr als er. Wenn ihm jemand auf dem Holzboden in der Hütte schlafen ließ, oder ihm gar an der abendlichen Suppe mitessen ließ, dann war er dankbar dafür. Mehr als dankbar sogar. Leider konnte er ihnen nichts zurückgeben.

In dieser Nacht war es Blind Hooch tatsächlich gelungen, eine Unterkunft zu finden. Eine ältere Frau hatte ihn aus den Fenstern ihrer Hütte bespäht und ihn auf der Wiese davor taumeln sehen. „Blind Hooch hat wieder getrunken“, dachte sie sich und ließ ihn aus Mitleid einkehren. In Wahrheit war er einfach stark geschwächt. Er hatte seit zwei, drei Tagen nichts mehr gegessen, und konnte sich nicht mehr ordentlich auf den Beinen halten. „Nimm ein bisschen Brot zur Suppe. Es ist zwar steinhart, aber besser als nichts.“ Die Frau lebte allen Anscheins nach allein. So erging es vielen hier. Die Leute starben einfach alle so schnell in dieser Zeit und in dieser Umgebung. Auch Hooch hatte Vater und Mutter verloren, als er zwölf war. Seitdem zog er als Wanderer von einer Siedlung zur nächsten, auf der Suche nach Essen und einer Bleibe für die Nacht. Mehr Erwartungen stellte er gar nicht, wozu auch, viele Menschen hier hatten weder das eine noch das andere. „Danke“, sagte er leise und ganz beschämt, dass er jemand anderen, der so arm war, um Essen gebeten hatte, stand auf vom Tisch und legte sich neben dem Kamin, in dem ein wenig Holz in den Flammen verbrannte und etwas Wärme abgab, schlafen.

© Lukas Hochholzer 2021-04-30

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