Die Zimmerpflanze

Tamara betrachtete kritisch das kleine Bäumchen, das mit all seinen anderen Kollegen, welche in einen Topf ungefragtermaßen gesteckt worden und an verschiedene Standorte des Supermarkts „Migros“ geliefert worden waren. Fröstelnd fragte sie sich, wie alt wohl dieser kleiner Tannenbaum war. Sie nannte diesen und alle anderen grüne Nadelbäume „Tannenbaum“. Ihr war zwar bewusst, dass es eine ganze Menge an Nadelbaumarten gab, doch da sie in der Natur keine Expertin, sondern eindeutig einfach nur eine Genießerin war, nannte sie alle Tannenbaum. Das hatte noch niemanden gestört. Dachte sie zumindest. Aber Tamara störte der Fakt, dass Jahr für Jahr Weihnachtsbäume in Massen verkauft, geschmückt, bestaunt und dann kaum einen Augenblick später auf die Müllkippe geschmissen wurden. Deshalb hatte sie entschieden dieses Jahr anders das Fest des Tannenbaumes alias Weihnachten zu praktizieren. Sie hatte viel zu viele Jahre ihres Lebens, genau genommen alle Jahre ihres Lebens, mit Tannenbaum gefeiert und daher konnte sie dieses Jahr einfach ohne ihrem geliebten stachligen Gesellen nicht feiern. Deswegen stand sie vor den Bäumchen, welche allerhöchsten auf dreißig Zentimeter kamen, doch dafür durften sie sich zu jenen glücklichen Pflanzen zählen, welche ihre Wurzeln noch die ihren nennen durften. Ja, ab heuer gab es einen lebenden Weihnachtsbaum.

Ihr Magen knurrte und zur selben Zeit hatte Tamara das Gefühl, die ersten Glieder ihrer Finger an die eisige Kälte opfern zu müssen. Doch da sie noch diesen Dezember einige Prüfungen zu schreiben hatte, beschloss sie heute keine ihrer Körperglieder irgendwem oder etwas zu opfern. Selbst wenn das bedeuten würde, dass es dieses Jahr weiße Weihnachten geben würde. Tja, schade. Schnell entschied sie sich für einer der drei kleinen Tannenbäumchen und eilte in den Migros und wurde sogleich von der warmen Luft von dem mehr als gut beheizten Geschäft umarmt. Mit einer gewissen Vorfreude stellte sie ihren kleinen Tannenbaum in ihren Einkaufswagen, doch bevor sie sich in die labyrinthartigen Gänge des Lebensmittelgeschäfts ziehen ließ und das Risiko einging, mindestens die nächsten zwanzig Minuten ihres Lebens in dieser Essensgrube zu verbringen, machte sie noch einen kleinen Schlenker in die Innenabteilung der Pflanzen, die hier angeboten wurden. Zielstrebig ging sie an einem besonders schönen Weihnachtskaktus mit rosafarbenen Blüten vorbei – ihre kleine Wohnung war sowieso kaum mehr als Wohnung zu erkennen und machte aufgrund der dicht besiedelten Pflanzen bereits dem tatsächlichen Tropenhaus ernste Konkurrenz. Obwohl sie tatsächlich ihren Kakteen, die sie über den Winter vom Balkon ins Warme geholt hatte, einen besseren Platz geben sollte. Denn neben ihren Schuhen am Boden hatten sie einen gefährlichen Standort. Soweit sich Tamara erinnern konnte, mochten ihre Zehen im Gegensatz zu ihren Ohren keine Piercings.

Nach einem kurzen Preisvergleich entschied sie sich für die größere Packung Erde, die tatsächlich billiger war, als die kleinere. Es brauchten sowieso mindestens vier weitere Pflanzen größere Töpfe und somit auch mehr Erde. Tamara freute sich bereits auf das Wochenende, wenn sie mit lautem Elektro-Swing beschallt werden und dabei Pflanzen umtopfen würde.