Die Zugfahrt und der alte Mann

Michael Egger

von Michael Egger

Story

Gestern bin ich mit dem Zug nach Hause gefahren. Vor mir saß ein – vermutlich – obdachloser Mann. Er führte einen Handwagen mit sich, den ich vermutlich schon längst weggeworfen hätte. Seine Kleidung war schmutzig und sein Blick würdevoll. Im ersten Moment dachte ich mir „hoffentlich hat er ein Ticket“.

Nach einigen Minuten kam der Schaffner. Fahrkarte bitte. Der alte Mann kramte in seiner Jackentasche herum und zeigte sein Ticket her. Er fuhr die gleiche Strecke wie ich. Es folgten einige Bahnhöfe, wo Menschen kam und gingen.

Nach einiger Zeit bemerkte ich etwas Erstaunliches. Trotzdem viele Fahrgäste mitfuhren, war um uns herum niemand. Er saß eine Reihe vor mir. Hinter uns und vor uns waren die Sitzreihen gut gefüllt. Sicherlich war der Mann mit seinen weisen zerzausten Harren und dem alten Hut aufgefallen. Wer will sich da schon eine Reihe daneben hinsetzen? Vermutlich dachten dies die anderen Mitfahrenden.

Jedenfalls sind wir über zwei Stunden in dieser Konstellation gesessen. Ich hatte somit einige Zeit, mir meine Gedanken zu machen. Woher kommt der Mann? Was muss einem Menschen passieren, um dort zu sein, wo er war. Ob er eine schöne Kindheit hatte? Eine Familie? Viele Fragen gingen mir durch den Kopf. Wer ihn wohl abholen kommt, oder schläft er ein und wacht auf, wenn der Zug die Endstation erreicht hat?

Draußen war bereits alles finster. Ab und zu huschten Lichter vorbei, Straßenlichter und der Zug folgte einem natürlichen Lauf im Gelände. Am Bahnhof angekommen ist der alte Mann ausgestiegen und ist seiner Wege gegangen. Ich habe mich zuvor noch von ihm freundlich verabschiedet, worauf er sich lächelnd bedankte.

Mein Fazit aus dieser unscheinbaren Begegnung: Gegenseitiger Respekt und Wertschätzung sind wichtiger als Missachtung und Ignoranz. Weil wir nur von Außen beurteilen können, wer uns gegenüber sitzt. Den Menschen im Inneren sehen wir allerdings nicht.

© Michael Egger 2020-02-07

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