Die Zwillingsfrage: Haben oder Sein

Anastasia Wesner

von Anastasia Wesner

Story

In einem kleinen Dorf lebten die Zwillinge Clara und Sofia. Obwohl sie äußerlich identisch waren – mit ihren haselnussbraunen Augen und dem langen, dunklen Haar –, hätten sie innerlich nicht unterschiedlicher sein können. Während Clara alles sammelte, was sie finden konnte, lebte Sofia nach dem Prinzip, dass weniger mehr sei.

Clara war stolz auf ihr kleines Zimmer, das bis an die Decke mit Büchern, Schmuckstücken und Erinnerungsstücken gefüllt war. „Jeder Gegenstand erzählt eine Geschichte“, erklärte sie, während sie einen alten Kompass polierte. „Das hier hat Großvater in den Krieg mitgenommen. Es ist ein Stück von ihm.“ Sofia hingegen hatte kaum Besitztümer. Ihre Möbel waren schlicht, und ihr Schrank enthielt nur das Nötigste. Sie verbrachte ihre Tage damit, die Felder zu durchstreifen, den Sonnenuntergang zu beobachten und sich mit den Dorfbewohnern zu unterhalten. „Was ich brauche, trage ich in mir“, sagte sie oft. „Erinnerungen, Freude, Liebe – dafür brauche ich keine Dinge.“

Eines Tages kam ein Händler ins Dorf. Er bot eine kostbare Uhr an, die angeblich jeden Wunsch erfüllen konnte, wenn man sie besaß. Clara war sofort begeistert. „Diese Uhr wäre das Herzstück meiner Sammlung!“, rief sie und begann fieberhaft, ihre Schätze zusammenzupacken, um sie gegen die Uhr einzutauschen.

Sofia sah ihrer Schwester zu, wie sie Kisten füllte und Dinge abwägte. „Du wirst alles aufgeben für etwas, das du noch nicht einmal ausprobiert hast?“, fragte sie skeptisch.

„Es ist nicht irgendein Ding, Sofia. Es ist ein Wunsch! Damit könnte ich alles haben, was ich je wollte!“, entgegnete Clara. Sofia schüttelte den Kopf, aber sie ließ ihre Schwester ziehen.

Die Uhr landete schließlich auf Claras Regal. Sie bewunderte sie jeden Tag, doch je mehr sie sie betrachtete, desto leerer fühlte sie sich. Die anderen Schätze, die sie hatte eintauschen müssen, fehlten ihr. Die Geschichten, die sie an den Gegenständen geliebt hatte, waren nun bloße Erinnerungen.

Sofia hingegen lebte weiter wie zuvor. Eines Abends saßen die Schwestern unter dem Sternenhimmel. Clara hielt die Uhr in der Hand, unsicher, welchen Wunsch sie sich erfüllen sollte. „Ich habe diese Uhr, und doch fühlt es sich an, als hätte ich weniger als vorher.“

Sofia legte eine Hand auf ihre Schulter. „Vielleicht ist der wahre Wunsch, den du hast, gar nicht etwas, was man besitzen kann.“

Clara schaute ihre Schwester lange an. Vielleicht hatte Sofia recht. Sie hielt die Uhr fest und sprach schließlich ihren Wunsch: „Ich wünsche mir, zu verstehen, was wirklich zählt.“ Von diesem Tag an sammelte Clara nicht mehr Gegenstände, sondern Momente. Gemeinsam mit Sofia streifte sie über die Felder, sprach mit den Menschen und entdeckte eine Welt, die sie vorher nicht gesehen hatte.Die Uhr verschwand spurlos, doch Clara vermisste sie nicht. Sie hatte gelernt, dass das Wesentliche weder gekauft noch festgehalten werden konnte.

© Anastasia Wesner 2024-11-26

Genres
Spiritualität
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Unbeschwert, Reflektierend
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