Dienen

Ulrima

von Ulrima

Story

„Jemand ist erst wirklich tot, wenn keiner mehr an ihn denkt.“ Diesen Satz – und ich glaube, das Originalzitat ist von Bertolt Brecht, sagte mir letzten Sonntag ein älterer Herr als ich mit ihm über den Tod sprach. Seither bist du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen Christian – und so widme ich dir diese Geschichte.

Christian war ein Freund meiner Familie, älter als ich, jünger als meine Eltern – irgendwo dazwischen. Sie lernten ihn schon als jungen Mann kennen, damals war ich noch ein kleines Mädchen. Als er noch jung war, war er als UN-Soldat auf den Golanhöhen eingesetzt, wo er durch einen Minenunfall sehr, sehr krank wurde.

Als ich ihn als Erwachsene wiedersah, hatte er einen Gehirntumor hinter sich, eine Morphiumpumpe im Körper eingebaut und ein Niesen oder Husten konnte für ihn bedeuten, sich einen Knochen zu brechen. Ich glaube kein Mensch, den ich kannte, hatte dieses Ausmaß von körperlichen Schmerzen erlebt. Manchmal konnte ich seinen Schmerz fühlen, wenn ich in seiner Nähe war. Eine eigene Familie hatte er leider nicht, und seine Ursprungsfamilie kümmerte sein Zustand nicht wirklich.

So kam es, dass er umso schlechter es ihm ging, immer öfter Zeit bei meinen Eltern verbrachte. Oft blieb er übers Wochenende, dankbar nicht alleine sein zu müssen. Wir sahen uns natürlich auch immer wieder mal, und ja, da war ein Leuchten in seinen Augen, ein Funken von Lebensfreude und Glück. Leider kam es zu einem Sturz im Haus meiner Eltern und Christian musste für einige Zeit ins Krankenhaus.

Als ich ihn dort besuchte, fragte er mich ganz vorsichtig: „Würdest du mir einen Gefallen tun und mir die Haare waschen?“ Er war immer sehr gepflegt gewesen und es lag ihm etwas daran, trotz seiner Einschränkungen auf sich zu achten. Da ich wusste, wie wichtig ihm dies war, kam ich seiner Bitte gerne nach. Und so verwandelten wir das Krankenhaus-Badezimmer in einen Wohlfühlraum. Voller Achtsamkeit und Hingabe wusch ich, denn ich wusste hier geht es nicht nur ums Haarewaschen. Es ging um viel mehr. Um achtsame liebevolle Berührung, absichtslos. In Hingabe einem anderen Menschen Berührung schenken. Die Haare gewaschen bekommen, nicht vom Krankenhaus – Personal als „Pflege“, sondern als Geschenk in genau diesem Moment.

Damals handelte ich intuitiv, doch heute weiß ich. Dies war ein Akt des „Dienens“, ein Akt der Liebe. Denn so oft, wenn mich jemand fragt, was Liebe für mich bedeutet, dann fühle ich dieses Dienen. Wenn wir bedingungslos für andere da sind, unsere Liebe verschenken, ohne Gegenleistung, ohne Applaus, ohne selbst etwas davon zu haben. Ich spreche nicht von Aufopferung, davon eigene Grenzen zu überschreiten und ständig nur für andere da zu sein.

Wenn ich von „Dienen“ spreche, dann spreche ich von einer Geisteshaltung, einem Bewusstsein. Das keinen Unterschied macht, welcher Mensch vor dir steht, ob es dein Kind, dein Partner oder ein Familienmitglied ist. Es passiert aus dir heraus. Danke Christian, dass ich dir dienen durfte.

© Ulrima 2025-05-08

Genres
Romane & Erzählungen