Diese Sache mit der Vorhaut

Hannes Stuber

von Hannes Stuber

Story

Mit zwölf Jahren war ich kleiner als das kleinste Mädchen meiner Schulklasse. Ich besuchte die dritte Klasse des Gymnasiums in Gänserndorf und befand mich eindeutig in der Entwicklungsphase. Also noch keine Wimmerl im Gesicht. Um ein Haar wäre mir die Vorhaut angewachsen. Meine Mutter hatte natürlich vergessen, mich aufzuklären, Vater war keiner präsent und auch sonst kein männlicher Verwandter in der näheren Umgebung. Die Großeltern gehörten der Vorkriegsgeneration an und sprachen ohnehin nie über sowas.

Zum Glück bekam ich das heikle Thema im Gespräch mit Klassenkameraden mit und schaffte es mit einiger Mühe gerade noch, die sich ans Festkleben machende Vorhaut von ihrem egozentrischen Vorhaben abzuhalten. Eine Operation am Penis hätte in diesem Alter vermutlich zu einem sinisteren Trauma geführt. Aber im Endeffekt lief alles wie geschmiert.

Eine Freundin erzählte mir einmal, wie furchtbar es war, als sie ihren fünfjährigen Sohn in Marokko beschneiden ließ. Der Eingriff führte zu einem Trauma bei ihr und bei dem Buben. Jedoch keinerlei Problem mit psychischen Belastungen bezüglich Beschneidung dürfte Jesus Christus gehabt haben. Wie oft er sich tatsächlich beschneiden ließ und warum die göttliche Vorhaut nachwuchs wie ein Zehennagel, entzieht sich der Kenntnis der Theologen, Urologen und Historiker. Fest steht nur, dass seine göttliche Vorhaut in mehreren katholischen Kirchen Europas zu verehren ist. Es rühmen sich dreizehn kirchliche Stätten, im Besitz der wahren göttlichen Vorhaut Christi zu sein, in Rom, Charroux, Antwerpen, Brügge, Paris, Boulogne, Besancon, Nancy, Metz, Le Puy, Conques, Hildesheim und Calcata. In Antwerpen wurde die Reliquie seinerzeit einmal im Jahr im Triumph durch die Straßen getragen. In Calcata wurde sie vor vier Jahrzehnten von Dieben gestohlen und verschwand.

Wie Jesus diese Sache mit der wuchernden Vorhaut, ihrer wundersamen Vermehrung schaffte, das weiß nur Gott allein. Jedenfalls sind diese Haut, die Nabelschnur und die Milchzähne das Einzige, das von unserem Retter und Erlöser zurückblieb, nachdem er in den Himmel aufgefahren war. Nur die Heilige Katharina von Siena hatte eine Vision, in der sie Jesus heiratete und seine Vorhaut als Ehering fungierte.

In dieser Zeit, als ich in die dritte Klasse ging, gab es neben der Sache mit der Vorhaut mehr Aufregungen für mich. Einmal rammte ich mir den Zirkel in die große Zehe und musste von zwei Schülern zur nahen Praxis des Gemeindearztes getragen werden. Ein andermal war der Blinddarm am Durchbrechen und wurde chirurgisch entfernt. Zusätzlich explodierte die Akne im Gesicht, sodass ich oft mit aufgetragener Salbe herumlief oder den Eiter aus dem Gesicht quetschte. Und endlich begann ich doch zu wachsen, die Mädchen in der Klasse wurden langsam kleiner als ich. Mit etwas Glück und Spucke schaffte ich es bis auf die Höhe von einem Meter und 77 Zentimetern. Im Fernsehen lief da gerade die Serie “77 Sunset Strip”. Das passte.

© Hannes Stuber 2021-08-24